Interview mit Gertrud Verdorfer

„Der Bildungsbereich muss sich laufend weiterentwickeln und sein Tun reflektieren“

Dienstag, 2.7.2024

Innovation und Inklusion: Die Direktorin der Pädagogischen Abteilung Gertrud Verdorfer blickt vor ihrem Ruhestand noch einmal gemeinsam mit INFO auf besondere Momente und Herausforderungen der letzten Jahre zurück. Ein Rück- und Ausblick.

INFO: Frau Verdorfer, welche waren die herausforderndsten und zugleich erfüllendsten Momente während Ihrer Zeit als Direktorin der Pädagogischen Abteilung in Südtirol?

Gertrud Verdorfer: Wenn man im Bildungs- oder Schulbereich tätig ist, erlebt man kontinuierlich Veränderungen. Die Erfahrungen, die wir während der Zeit mit Corona gemacht haben, stellen dabei zweifellos ein einzigartiges Kapitel und eine besondere Herausforderung dar. Um wirkungsvolle und zeitgemäße Unterstützung zu bieten, insbesondere als pädagogische Abteilung, ist es notwendig, dass wir unser Angebot kontinuierlich weiterentwickeln, reflektieren, anpassen und überarbeiten. Das war und ist nicht immer so leicht, weil wir eine große Abteilung sind und es oft schwierig ist, sich von vertrauten Zugängen und Formaten zu lösen. Oftmals waren aber auch genau diese Erneuerungen und Weiterentwicklungen eine Quelle der Motivation und Erfüllung für mich als Direktorin der Pädagogischen Abteilung. Mit meinem Team von engagierten und kompetenten Kolleginnen und Kollegen habe ich es als äußerst bereichernd empfunden, neue Ansätze zu entwickeln und umzusetzen.

Eine der wichtigsten Entwicklungen war die Schaffung einer neuen Form der Zusammenarbeit und des Wissenstransfers innerhalb der Abteilung.

Woran haben Sie genau gearbeitet und gibt es Errungenschaften, auf die Sie besonders stolz sind?

Wir haben an verschiedenen Themen gearbeitet, darunter die Weiterentwicklung von Fortbildungsangeboten, die Anpassung von Fortbildungsformaten und die Weiterentwicklung unseres Verständnisses von Beratung und Begleitung. Eine der wichtigsten Entwicklungen war jedoch die Schaffung einer neuen Form der Zusammenarbeit und des Wissenstransfers innerhalb der Abteilung. Hier haben wir erfolgreich professionelle Lerngemeinschaften etabliert, in denen jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter ihre bzw. seine Expertise und Perspektive einbringt, um gemeinsam an Angeboten zu arbeiten, die Kindergärten und Schulen wirksam und nachhaltig unterstützen können. Dieser dynamische Prozess hat es uns ermöglicht, effektiver zusammenzuarbeiten und innovative Ansätze zu entwickeln, die den sich ständig verändernden Rahmenbedingungen gerecht werden.

Welche Veränderungen haben Sie während Ihrer Amtszeit in der Bildungslandschaft Südtirols bemerkt und wie wurde darauf reagiert?

Schulen stehen zunehmend vor Herausforderungen, die nicht so leicht zu bewältigen sind und die Akteurinnen und Akteure auch an ihre Grenzen bringen. Insbesondere die Notwendigkeit, sich den Anforderungen und Realitäten anzupassen, die durch zunehmend heterogene Klassen und einen breit gefassten Inklusionsbegriff deutlich spürbar werden, ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Ein verbreiteter Ansatz ist, an bewährten Methoden und bekannten Praktiken festzuhalten, die bisher gute Ergebnisse erzielt haben. Andererseits gibt es auch Schulen, die erkennen, dass sie Altbewährtes loslassen und neue Wege gehen müssen, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Diese Veränderungen vollziehen sich in unterschiedlichem Tempo und es ist auch wichtig anzumerken, dass die Bildungslandschaften in städtischen und ländlichen Regionen stark variieren.

Wenn wir Veränderungen wahrnehmen und ernst nehmen, müssen sie sich natürlich auch im Lernprozess widerspiegeln.

Welche Rolle spielen innovative pädagogische Ansätze in der heutigen Bildungslandschaft und wie haben Sie diese in Ihrer Amtszeit gefördert?

Ich sehe Innovation nicht unbedingt darin, immer etwas völlig Neues zu erfinden oder nach einem neuen Wundermittel zu suchen. Für mich bedeutet Innovation im Bildungsbereich vielmehr, dass man die Veränderungen der Rahmenbedingungen in der Gesellschaft und in den Schulen aufmerksam beobachtet sowie die sich ändernden Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche aufwachsen, ernsthaft berücksichtigt und passende Antworten darauf sucht

Wenn wir diese Veränderungen wahrnehmen und ernst nehmen, müssen sie sich natürlich auch im Lernprozess widerspiegeln. Der Unterricht von heute kann nicht genauso gestaltet sein wie vor 30 oder 50 Jahren. Daher sehe ich Innovation auch darin, das Verständnis von Lernen zu verändern und einen neuen Zugang im Bereich der Inklusion zu finden. Es geht nicht darum, dass verschiedene Akteure sich jeweils um ihre spezifische Gruppe kümmern, sondern vielmehr darum, innerhalb einer Schule bzw. auch einer Klasse einen gemeinsamen Blick und einen gemeinsamen Ansatz zu entwickeln.

Welche Ratschläge würden Sie Ihrem Nachfolger bzw. Ihrer Nachfolgerin geben, um erfolgreich in Ihrer Position zu sein?

Ich habe keine expliziten Ratschläge zu geben. Jeder hat seine eigene Art, bringt seine eigene Geschichte und Erfahrungen mit und hat seinen eigenen Fokus. Für mich war es jedoch besonders wichtig, präsent und ansprechbar zu sein. Der Austausch mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern war von großer Bedeutung. Während dieser sechs Jahre habe ich in verschiedenen Bereichen wirklich viel dazugelernt, was eine bereichernde Erfahrung war. Es war mir wichtig, meine Führungsposition wahrzunehmen und an verschiedenen Diskussionen und Prozessen teilzunehmen, ohne dabei zu dominieren. Ich habe viele Aufgaben delegiert, konnte aber dennoch mitwirken und auch dazu beitragen, Aspekte und Sichtweisen zusammenzuführen und Ergebnisse weiterzubringen.

Welche sind die größten Herausforderungen, denen sich das Bildungssystem in Südtirol in den kommenden Jahren stellen muss?

Ich denke, es gibt eine Vielzahl von Herausforderungen, die sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren, insbesondere auch im pädagogisch-didaktischen Bereich. Die Entwicklung einer inklusiven Schule ist eine bedeutende Herausforderung, die weit über den Begriff der Integration hinausgeht. Es erfordert ein Umdenken und die Entwicklung einer Haltung, in der jedes Kind – unabhängig von seinen individuellen Voraussetzungen, seiner Herkunft, seinen Stärken und Schwächen – einen Platz in der Schule findet und dort erfolgreich lernen kann.      
Eine weitere Herausforderung sehe ich in der Neuausrichtung des Lernbegriffs.

Möglichst allen Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden, erfordert eine engagierte Unterstützung seitens der Schule, die nur durch die aktive Zusammenarbeit aller Beteiligten – einschließlich verschiedener Experten und Expertinnen und natürlich der Lehrpersonen selbst – erfolgreich bewältigt werden kann.

Inwiefern?

Die Schule ist noch stark auf Inhalte fokussiert und reproduktionsorientiert. Es ist jedoch entscheidend, dass wir das Lernen neu denken und uns stärker auf Schlüsselkompetenzen wie kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation und Zusammenarbeit konzentrieren.

Möglichst allen Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden, erfordert eine engagierte Unterstützung seitens der Schule, die nur durch die aktive Zusammenarbeit aller Beteiligten – einschließlich verschiedener Experten und Expertinnen und natürlich der Lehrpersonen selbst – erfolgreich bewältigt werden kann. Die Lehrpersonen spielen dabei eine zentrale Rolle und eine isolierte Umsetzung von Integration und unterstützenden Maßnahmen wird nicht ausreichen. Die Zusammenarbeit und Koordination aller Beteiligten sind von entscheidender Bedeutung, um dieser Herausforderung gerecht zu werden.

Welche Auffassung vertreten Sie bezüglich der Rolle von Psychopädagoginnen und -pädagogen und Schulpsychologinnen und -psychologen im Bildungswesen sowie der Integration von Sozialpädagoginnen und -pädagogen in Schulen?

Es ist sehr wichtig, dass Schulen über eine breite Palette an Fachkräften verfügen, um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden. In deutschen Schulen gibt es beispielsweise Schulsozialpädagoginnen und -pädagogen, die wichtige Unterstützung bieten. An italienischen Schulen werden verstärkt Psychologinnen und Psychologen eingesetzt. Darüber hinaus spielen Sprachlehrpersonen, Psychopädagoginnen und -pädagogen sowie Teams und Einzelpersonen im Unterstützungsbereich eine wichtige Rolle. Eine moderne Schule benötigt zweifellos diesen breiten Ansatz und Blickwinkel. Allerdings reicht es nicht aus, nur über diese Ressourcen zu verfügen bzw. diese einzuklagen. Der nächste Schritt besteht darin, Konzepte zu entwickeln, wie diese verschiedenen Fachkräfte konstruktiv und wirksam zusammenarbeiten können, um ein tragfähiges Netz zu knüpfen.

Wie sollte diese Zusammenarbeit aussehen?

Ich denke an professionelle Lerngemeinschaften, die ihre unterschiedlichen Kompetenzen bündeln, insbesondere an Schulen, die eine große Heterogenität aufweisen. Durch diese Zusammenarbeit kann es gelingen, das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen zu fördern und gleichzeitig dem Lehrpersonal das Gefühl zu vermitteln, effektiv und wirksam und nicht permanent überfordert zu sein.

Im Grunde meines Herzens bin ich noch immer Lehrerin.

Wie planen Sie, Ihre Erfahrungen und Ihr Wissen auch nach Ihrem Ruhestand weiterhin der Bildungsgemeinschaft zur Verfügung zu stellen?

Grundsätzlich betrachte ich es als ein Privileg, dass ich viele verschiedene Rollen im Bildungsbereich einnehmen konnte. Nachdem ich lange Zeit als Lehrerin tätig war, danach als Schulführungskraft und im Inspektorat sowie in der Pädagogischen Abteilung gearbeitet habe, schließe ich nun dieses Kapitel in Dankbarkeit ab und bin sicher, dass mein Nachfolger mit viel Engagement und neuen Ideen die Arbeit erfolgreich weiterführen wird.

Für die Zukunft habe ich viele Wünsche, Pläne und Ideen. Ich freue mich darauf, ein neues Kapitel aufzuschlagen und lasse die Herausforderungen auf mich zukommen.  Weil ich mein Leben lang im Bildungsbereich gearbeitet habe, ist gar nicht ausgeschlossen, dass sich auch dort ein kleiner Tätigkeitsbereich findet; im Grunde meines Herzens bin ich noch immer Lehrerin.

Redaktion INFO

Interview mit Gertrud Verdorfer

Integration als Schlüssel zur Inklusion

Dienstag, 2.7.2024

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    Zwei Professorinnen der Freien Universität Bozen, Simone Seitz und Heidrun Demo, Direktorin und Vizedirektorin des Kompetenzzentrums für Inklusion im Bildungsbereich, haben eine Stellungnahme zur Debatte um die Entwicklung einer Sonderklasse aus Sicht der Bildungsforschung abgegeben.
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