Ruhestand für Schulinspektorin Rosmarie Niedermair
„Seit meinem sechsten Lebensjahr bin ich in der Schulwelt“
Nach mehreren Jahrzehnten im Unterricht, in der Schulleitung, in der Evaluierung und schließlich als Schulinspektorin verabschiedet sich Rosmarie Niedermair vom Bildungswesen in Südtirol. Im Interview mit INFO blickt sie auf ihre berufliche Laufbahn zurück.
INFO: Frau Niedermair, wie würden Sie Ihre berufliche Laufbahn beschreiben? Was waren die wichtigsten Meilensteine Ihrer Karriere?
Rosmarie Niedermair: Ich habe an der Lehrerbildungsanstalt maturiert. Da es damals keine freien Stellen in der Grundschule gab, habe ich ein Jahr an einer Mittelschule unterrichtet. Danach beschloss ich, Geschichte und Kunstgeschichte zu studieren. Nach dem Studium habe ich rund 20 Jahre lang Deutsch, Geschichte und Geografie in der Mittelschule unterrichtet und im Laufe der Zeit dabei verschiedene zusätzliche Aufgaben übernommen: die Leitung von Arbeitsgruppen, die Rolle der Koordinatorin, der Schulleiterin und der Direktorstellvertreterin. Obwohl mir der Unterricht, das Arbeiten mit den jungen Menschen immer sehr gut gefallen hat, wollte ich noch einmal etwas Neues angehen; meine Söhne waren in der Zwischenzeit 15 Jahre alt geworden, sodass die familiäre Situation eine Neuorientierung auch zuließ.
Im Grunde war ich seit meinem sechsten Lebensjahr in irgendeiner Form in der Schule bzw. im Bildungsbereich.
Und zwar?
Nachdem ich zwei Jahre lang einen Direktionsauftrag übernommen und in dieser Zeit auch erfolgreich am Direktorenwettbewerb teilgenommen hatte, war ich für weitere neun Jahre als Schuldirektorin tätig. Auch wenn die Arbeit als Schulführungskraft herausfordernd und teilweise anstrengend war, habe ich sie sehr gerne gemacht, vor allem, weil ich viel Gestaltungsspielraum hatte und weil mir der Umgang mit Menschen liegt – und als Direktorin hat man es tatsächlich mit einem breiten Spektrum von Personen zu tun. Nach elf Jahren in der Direktion wechselte ich zur Landesevaluationsstelle, wo ich vier Jahre lang gearbeitet habe. In dieser Zeit habe ich im Rahmen der externen Evaluation der Schulen viel Einblick in die Südtiroler Schulwelt bekommen und erfahren dürfen, wie vielfältig und unterschiedlich unsere Schulen sind, trotz der für alle geltenden Rahmenvorgaben. Dann wurde mir angeboten, ins Schulinspektorat zu wechseln. Und so habe ich in meinen letzten fünf Dienstjahren als Schulinspektorin gearbeitet, was mir auch deshalb viel gegeben hat, weil wir dort als Team sehr gut zusammenarbeiten. Im Grunde bin ich seit meinem sechsten Lebensjahr in irgendeiner Form in der Schule bzw. im Bildungsbereich verankert, zuerst als Schülerin und Studentin, dann im Rahmen meiner Berufstätigkeit. Ich habe immer gerne gearbeitet und mich stark über meinen Beruf definiert und auch damit identifiziert. Sehr froh bin ich darüber, dass ich im Laufe der Jahre die Möglichkeit hatte, in der Schulwelt in verschiedenen Rollen tätig zu sein; jede hat mich fachlich und persönlich weitergebracht und hat mir die Möglichkeit geboten, viele Menschen kennenzulernen und mit unterschiedlichen Personen zusammenzuarbeiten. Darauf blicke ich mit Genugtuung und Dankbarkeit zurück.
Als Schulinspektorin sind Sie aktuell zuständig für das Projekt „Wege in die Bildung 2030 – guter Unterricht in der inklusiven Schule“. Wie haben sich Ihrer Meinung nach die Bedürfnisse und Anforderungen an Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern im inklusiven Unterricht verändert?
In den über 40 Jahren, die ich im Schulwesen tätig war, hat es große gesellschaftliche Veränderungen gegeben. Weil die Schule ein Teil der Gesellschaft ist, spiegeln sich diese Veränderungen eben auch dort wider. Ganz besonders zeigt sich dies in der stark gestiegenen Heterogenität in den Klassen. Es ist eine große Herausforderung, den Bedürfnissen und Anforderungen der heutigen Gesellschaft gerecht zu werden und mit den raschen Veränderungen Schritt zu halten. Aber es gibt keine Alternative: Die Schule muss sich kontinuierlich weiterentwickeln, um ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Sie muss guten Unterricht für alle Kinder und Jugendlichen gewährleisten, so wie sie eben in der Gesellschaft da sind.
Die Schule muss im Dienst der jungen Menschen stehen und deren Bedürfnissen gerecht werden. Nur so kann sie ihren Bildungsauftrag erfüllen.
Von welchen Veränderungen sprechen wir da genau?
Die letzten 20 Jahre sind vor allem durch die Digitalisierung und Globalisierung geprägt. Die diesbezüglichen Entwicklungen erfordern von der Schule viel Flexibilität und große Offenheit für Neues. Es ist daher nachvollziehbar, dass sich Lehrpersonen dabei oft auch überfordert fühlen.
Welche Trends und Entwicklungen im Bereich der pädagogischen und didaktischen Arbeit erwarten Sie in den nächsten Jahren?
Entwicklungen vorherzusagen, ist immer schwierig. Ein Aspekt, von dem ich glaube, dass Veränderungen notwendig sind, betrifft das Personal. Bereits jetzt fehlen uns Lehrkräfte, und es ist zu befürchten, dass dieses Problem in der nächsten Zeit noch gravierender wird. Daher müssen wir einerseits sicherstellen, dass der Lehrberuf attraktiv bleibt oder wieder wird, und andererseits überlegen, wie das Berufsbild der Lehrperson kompatibel werden kann mit den Anforderungen an einen zeitgemäßen Unterricht.
Es ist für mich erschreckend, dass trotz der in Italien schon seit Langem geltenden Bestimmungen zur Inklusion immer noch da und dort exkludierende Haltungen sichtbar werden.
Haben Sie diesbezüglich konkrete Vorstellungen?
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, wie nachhaltiges Lernen passiert, müssen stärker in den Unterricht einfließen. Schülerinnen und Schüler müssen mehr Eigenverantwortung für ihr Lernen übernehmen und sich dabei verstärkt selbst organisieren. Die Lehrpersonen sind immer weniger Wissensvermittler und Wissensvermittlerinnen, sondern vor allem Lernberatende bzw. Lernbegleitende. Die Inklusion aller Lernenden muss im Fokus bleiben und die Schule ein Lernort werden, an dem jedes Kind und jede/r Jugendliche einen auf seine/ihre individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse angepassten Bildungsweg beschreiten kann. Ein Verständnis von Schule im genannten Sinn erfordert Bereitschaft zur Veränderung, vor allem aber auch mehr Flexibilität in Bezug auf die Arbeitszeit und die Aufgaben als Lehrperson. Erschreckend ist für mich, dass trotz der in Italien schon seit Langem geltenden Bestimmungen zur Inklusion immer noch da und dort exkludierende Haltungen sichtbar werden.
Welche Ratschläge haben Sie für die nächste Generation von Pädagoginnen und Pädagogen?
Ratschläge sind immer schwierig, aber ich denke, das Wichtigste für die Tätigkeit als Lehrperson ist eine positive Haltung gegenüber den Kindern bzw. Jugendlichen, dass man diese einfach mag und gerne mit ihnen arbeitet; dann kann der Lehrberuf viel Genugtuung und Freude bringen. Die Arbeit als Lehrperson ist zweifelsohne auch anstrengend und herausfordernd und kann schnell zur Belastung werden, wenn man keinen positiven Zugang zu den Schülerinnen und Schülern findet. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bereitschaft zu kontinuierlicher Professionalisierung und Weiterentwicklung.
Inwiefern?
Man muss das „Handwerk“ des Unterrichtens grundsätzlich erlernen, dann aber immer offen bleiben für neue Erkenntnisse und neue Erfordernisse und sich dementsprechend laufend fortbilden und auch weiterentwickeln. Stark verändert hat sich in meiner Wahrnehmung die Beziehung zu den Eltern der Schülerinnen und Schüler. Die Eltern weisen heute insgesamt ein höheres Bildungsniveau auf und wollen sich vielfach in der Schule auch einbringen und mitentscheiden; sie sind kritischer geworden und stellen Ansprüche an die Schule. Hier gilt es, die jeweiligen Kompetenzen zu respektieren: die Eltern einerseits als Ressource zu nutzen, andererseits auch Grenzen aufzuzeigen. Dabei ist eine professionelle Kommunikation sehr bedeutsam.
Schulen sollten sich nicht als isolierte Inseln verstehen, sondern als integralen Bestandteil der Gesellschaft.
Auch die Vernetzung mit der Gesellschaft ist von großer Bedeutung. Es ist wichtig, dass Schulen und Lehrpersonen mit verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zusammentreffen und auch kooperieren. Die Themen, die in der Schule behandelt werden, sollten wirkliche Relevanz für das Leben und die Zukunft der jungen Leute haben. Wir sollten uns daher gut überlegen, welche Themen und Inhalte in der Schule aufgegriffen werden müssen und was von dem, was immer noch viel Zeit im Unterricht beansprucht, auch weggelassen werden kann, weil es an Bedeutung verloren hat.
Welche Pläne haben Sie für Ihren Ruhestand?
In meinen letzten Arbeitswochen möchte ich noch eine gute Übergabe der Bereiche, die ich betreut habe, sicherstellen. Für den Ruhestand habe ich noch keine konkreten Pläne, aber ich habe in jedem Fall vor, mir zunächst einige Monate Zeit zu nehmen, um zur Ruhe zu kommen. Ich habe immer viel gearbeitet, immer in Vollzeit, und das – so traue ich mich zu sagen – mit großem Engagement. Ich möchte nun einmal wahrnehmen, wie es ist, die Dinge ruhiger anzugehen und ohne ständige Termine zu leben. Ich möchte dann vermehrt meinen Interessen nachgehen, die in der Vergangenheit öfters zu kurz gekommen sind, so etwa Theaterbesuche und andere kulturelle Aktivitäten, nicht zuletzt das Lesen, aber auch die Pflege von Kontakten und die Bewegung in der Natur. Ich plane auch, mehr zu reisen; in der Vergangenheit war dies aus zeitlichen Gründen oft nicht möglich. Ich bin außerdem seit mehreren Jahren im Verwaltungsrat des Seniorenheims in meinem Dorf tätig und könnte mir vorstellen, mich dort zukünftig mehr einzubringen. Auch mein Engagement in der Pfarrgemeinde könnte ich ausbauen
Werden Sie weiterhin in irgendeiner Form im Bildungsbereich aktiv sein, vielleicht als Beraterin oder Ehrenamtliche?
Momentan habe ich in diesem Bereich nichts Konkretes geplant; es ist aber auch nicht so, dass ich einen definitiven Schlussstrich unter alles setze, was mit Schule zu tun hat. Ich bin grundsätzlich offen für neue Aufgaben und Herausforderungen, und dann wird sich weisen, was die Zukunft bringt und welche Möglichkeiten sich auftun.