Staatlich anerkannte und gleichgestellte Schulen
„Das Kind als ein Rätsel“
Die Lehrerinnen Astrid Prieth und Veronika Pircher geben Einblicke in die Philosophie und Praxis der Freien Waldorfschule in Meran. Im Gespräch erklären sie, welcher Philosophie sich die Schule verpflichtet fühlt, welchen Stellenwert handwerkliche und künstlerische Fächer haben und wie die Zusammenarbeit mit staatlichen Schulen funktioniert.
Seit rund 20 Jahren ist Astrid Prieth Lehrerin an der Waldorfschule in Meran/Obermais und mentoriert Pädagoginnen und Pädagogen, die neu an die Schule kommen. Zusammen mit ihrer Kollegin Veronika Pircher leitet sie außerdem die wöchentlich stattfindenden Konferenzen, bei der sich die Lehrpersonen mit pädagogischen Fragen auseinandersetzen und sich auch über den Arbeitsalltag austauschen.
Die Freie Waldorfschule mit Grund- und Mittelschule besteht seit 1985 und ist aus einer Initiative von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern sowie Förderinnen und Förderern der Waldorf-Schulbewegung hervorgegangen. Die Grundschule an der Waldorfschule in Meran ist eine staatlich gleichgestellte Einrichtung und kann somit gültige Zeugnisse ausstellen. Die Mittelschule hingegen ist eine anerkannte Schule, daher müssen die Schülerinnen und Schüler am Ende der Mittelschule die Abschlussprüfung an an einer staatlichen oder gleichgestellten Schule ablegen. „Das läuft ganz unkompliziert ab und unsere Schülerinnen und Schüler absolvieren die Prüfung erfolgreich. Wir sind schon seit Jahren in einem sehr guten Austausch mit dem Schulsprengel Meran/Obermais, wo wir uns mit den Klassenräten der Abschlussklassen treffen und in Austausch treten“, erklärt Astrid Prieth, die sich mit Kollegin Veronika Pircher Zeit für ein Interview mit INFO genommen hat.
INFO: Welche Philosophie steckt hinter der Waldorfschule?
Astrid Prieth (AP): Unsere Philosophie basiert auf Rudolf Steiners Menschenkunde. Lehrerinnen und Lehrer setzen sich sowohl in ihrer Ausbildung als auch während ihrer Tätigkeit intensiv mit dem Konzept des werdenden Menschen auseinander.
Veronika Pircher (VP): Wir betrachten das Kind als Rätsel und möchten ihm helfen, sich gemäß der Menschenkunde zu entwickeln. Dabei begegnen wir den Kindern unvoreingenommen. Der Lehrplan wird entsprechend der Entwicklungsstufen der Kinder angepasst.
AP: Der Lehrplan wird so gestaltet, dass handwerkliche und künstlerische Fächer den lerntechnischen Fächern gleichgestellt sind. Die Inhalte sollen Antworten auf die Fragen geben, die sich das Kind in seiner jeweiligen Entwicklungsstufe stellt.
VP: Ein wichtiger Punkt ist der Zahnwechsel, der die Schulreife signalisiert. Schul- und anthroposophische Ärzte helfen dabei, die Schulreife der Kinder festzustellen.
INFO: Wie unterscheidet sich der Unterricht von staatlichen Schulen?
AP: Der größte Unterschied ist der Lehrplan und dass unsere Schüler acht Jahre lang im selben Klassenverband bleiben. So kann der Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin über die Jahre eine intensive Beziehung zur Klasse und zu den einzelnen Kindern aufbauen. Diese kontinuierliche Begleitung ermöglicht es uns, die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder neben der lerntechnischen Entwicklung zu fördern. Der Unterricht findet außerdem in Epochen statt, das heißt, wir unterrichten bestimmte Inhalte und Fächer für zwei bis vier Wochen intensiv.
VP: Im künstlerischen Unterricht wird viel über das Rezipieren von Gedichten, Singen und Zungenbrechern gearbeitet. Diese sprachlichen Elemente wirken sich positiv auf die Lernfähigkeit aus.
INFO: Waren Sie beide immer Waldorflehrerinnen?
VP: Ich war vorher an einer staatlichen Schule und bin über meinen Sohn und private Kontakte zur Waldorfschule gekommen. Für mich war es stimmig, mich auf diese Erziehungskunst einzulassen, da sie der Entfaltung des Kindes sehr gerecht wird.
AP: Meine Studien der Sozialwissenschaften und Erziehungswissenschaften habe ich in Wien begonnen und in Innsbruck abgeschlossen. Ursprünglich war ich in der Erwachsenenbildung tätig. Über die eigenen Kinder habe ich Zugang zur Waldpädagogik gefunden und in einem zweiten Bildungsweg die Ausbildung zur Waldorflehrerin absolviert, zusätzlich habe ich mich als Mentorin für neueinzustellende Lehrkräfte weitergebildet.
INFO: Wie wird Gemeinschaft an Ihrer Schule gelebt?
AP: Jeden Montag treffen wir uns mit der gesamten Schule im Morgenkreis. Hier werden besondere Projekte und eventuell Besucherinnen oder Besucher vorgestellt, und wir singen gemeinsam. Wir feiern Feste wie Michaeli, bei denen ältere Schüler jüngere begleiten. Zudem haben wir Schulfeiern, bei denen die Klassen Projekte präsentieren können. Auch die Patenschaften zwischen Erstklässler und Achtklässler sind ein wichtiger Bestandteil unserer Schulgemeinschaft. Die älteren Schülerinnen und Schüler holen die jüngeren auch mal zuhause oder bei der Ankunft an der Schule ab, tragen ihre Schultaschen und helfen ihnen, sich im Schulhaus und im Schulalltag zurechtzufinden.
INFO: An der Schule ist ja auch ein Waldorfkindergarten angesiedelt …
AP: Genau, es gibt eine Kindergartengruppe direkt im Haus und seit zwei Jahren eine Kindergartengruppe zehn Minuten vom Haupthaus entfernt. Wir freuen uns, wenn die Kindergartenkinder zu uns kommen, denn im ersten Unterrichtsjahr werden viele Elemente im Ablauf des Vormittags aus dem Kindergarten wieder aufgenommen. Sie nehmen die gelernten Reigen und Gewohnheiten mit, wie zum Beispiel den Ablauf in der Gemeinschaft und einzelne Elemente – etwa die Fingerfertigkeit, die schon früh geschult wird. Die Neurowissenschaft bestätigt, wie wichtig das ist. Jungs und Mädchen lernen ab der ersten Klasse stricken, Handarbeiten wird von der ersten bis zur achten Klasse unterrichtet. Unsere Jungs sitzen genauso an der Nähmaschine, nähen an ihrem Kleidungsstück und wissen, wie man einen Knopf annäht. Umgekehrt kommen die Mädchen früh in Kontakt mit Werkzeugen und arbeiten in unserer Werkstatt.
VP: Ich muss eine Episode aus meiner Unterrichtsstunde erzählen: Ein Junge hat tatsächlich sein Loch in der Trainerhose selbst geflickt, weil zufällig Nadel und Faden in der Klasse verfügbar waren. Das zeigt, wie individuell Förderung bei uns funktioniert.
INFO: Auch die Eltern sind stark eingebunden …
AP: Ja, die Eltern sind eine wichtige Säule unserer Schule. Ohne sie gäbe es die Schule nicht. Wir pflegen einen intensiven pädagogischen Austausch und organisieren regelmäßig Elternabende. Die Eltern helfen bei der Gartenarbeit oder organisieren Projekte wie den Adventbasar.
INFO: Wie funktioniert der Übergang zur Abschlussprüfung nach den acht Jahren?
AP: Unser Waldorfabschluss gliedert sich in drei Teile. Ein großes Projekt ist das Klassenspiel, bei dem es darum geht, als Klasse gemeinsam ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen – ein großer sozialer Prozess. Die Klassenfahrt ist eine weitere soziale Herausforderung, bei der es darum geht, gemeinsam Schwierigkeiten, Hürden und Grenzen zu überwinden. Jeder Schüler und jede Schülerin bearbeitet außerdem ein individuelles Thema künstlerisch und dokumentiert den Arbeitsprozess schriftlich. Die Ergebnisse werden der gesamten Schulgemeinschaft präsentiert. Für die öffentliche Prüfung arbeiten wir eng mit dem Schulsprengel Meran/Obermais zusammen. Wie schon eingangs erwähnt, absolvieren unsere Schüler und Schülerinnen die Prüfung ohne Probleme.