Braucht „Guter Unterricht“ die Digitalisierung?
Wir müssen Lehr- und Lernprozesse grundlegend verändern, damit Kinder und Jugendliche die Kompetenzen erwerben, die sie brauchen, um mit den Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten Welt umzugehen. Das war ein Fazit von mehreren Thementischen, an denen im Mai 2024 die Schulführungskräfte aller Schulstufen teilgenommen haben.
Guter Unterricht ist auch ohne Digitalität möglich. Deshalb stellt sich die Frage: Welchen Gefahren sind Schülerinnen und Schüler und gelingender Unterricht durch die fortschreitende Digitalisierung ausgesetzt? Den Fragen, wie „notwendig“ und wie „gefährlich“ die Digitalisierung für das Lernen der Schülerinnen und Schüler ist, wird in diesem Artikel nachgegangen. Auch die letzte Dienstkonferenz der Schulführungskräfte hat sich dem Thema „Digitalität“ gewidmet. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pädagogischen Abteilung haben sechs Thementische geleitet, die Anlass für anregende Diskussionen unter den Schulführungskräften aller Schulstufen waren.
Die Schlagzeilen „Schweden stoppt die Digitalisierung in den Schulen“ und „Zurück zu Buch und Stift in den Schulen“ aus dem vergangenen Jahr gingen durch die Medien, nachdem fünf Professorinnen und Professoren des renommierten Karolinska-Instituts in Schweden vor den negativen Auswirkungen der Digitalisierung an Schulen gewarnt hatten. Nur dass sich damals wenige Leserinnen und Leser die Mühe machten, sich genauer zu informieren: In Schweden war man 2023 drauf und dran, die Grundschulen flächendeckend zu digitalisieren und auf Bücher zu verzichten. In Südtirol sind wir meilenweit davon entfernt, in den Grundschulen Papier und Stift abzuschaffen. Vor diesem Hintergrund müssen wir die Schlagzeilen einordnen.
Digitales an sich noch keine Garantie für Mehrwert beim Lernen
Der Thementisch bei der Dienstkonferenz „Wie viel und wozu Digitales an der Grundschule?“ hat es auf den Punkt gebracht. Es gilt vor allem gut zu überlegen, wozu wir digitale Werkzeuge und Plattformen im Unterricht einsetzen wollen. Wenn es darum geht, nur etwas Abwechslung in den Unterricht zu bringen, indem beispielsweise Kinder zu einem gelesenen Text Fragen über die „Antolin App“ beantworten dürfen, schadet das nicht. Es erhöht das Textverständnis der Kinder, erleichtert der Lehrperson die Arbeit, schöpft aber nichtsdestotrotz das Potenzial dieser Technologie bei Weitem nicht aus. LearningApps dieser Art ermöglichen individuelles Training von Fertigkeiten (so viele Übungen nach demselben Muster, bis die Fertigkeit „sitzt“), unterstützen Lehrpersonen durch automatisiertes Korrigieren von geschlossenen Aufgaben- und Prüfungsformaten (Lückentexten, Richtig-Falsch-Antworten …) und fokussieren so einen eng geführten Unterricht, der auf Training und Reproduktion von Wissen setzt.
Wenig sinnvoll ist auch der immer wiederkehrende Auftrag an die Schülerinnen und Schüler: „Recherchiert doch einmal im Internet!“ oder „Sucht nach Bildern im Internet“, wenn es keine Anleitung und keine Strategien zur Suche und Bewertung von Suchergebnissen im Internet gibt. Von hohem Anteil an echter Lernzeit, einem wesentlichen Merkmal von gutem Unterricht, kann da wohl nicht die Rede sein.
Digitalisierte Welt erfordert neuen Blick auf Lehr- und Lernprozesse
Wir müssen Lehr- und Lernprozesse grundlegend verändern, damit Kinder und Jugendliche die Kompetenzen erwerben, die sie brauchen, um mit den Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten Welt umzugehen. KI-gestützte Tools der letzten Generation – und weitere werden folgen – eröffnen uns Möglichkeiten, um Inklusion besser zu meistern, zum Beispiel in Bezug auf Übersetzung oder Vereinfachung und Zusammenfassung von Texten. Gleichzeitig müssen wir akzeptieren, dass diese KI-Tools unsere über Jahrzehnte tradierten Aufgabentypen und Prüfungsformate auf den Kopf stellen. Verbote, diese Tools nicht zu verwenden, weil Ergebnisse schwierig zu bewerten sind, werden wenig nützen. Der Thementisch „KI – Level 2: Was kommt nach ChatGPT?“hat in diesem Zusammenhang interessante Fragen aufgeworfen: Was braucht es heute noch an Wissen? Was will ich lernen und wo bekomme ich Unterstützung? Wie kann nachhaltiges Lernen gefördert und Lernzeit sinnvoll genutzt werden?
Herausforderungen ernst nehmen
Diese proaktive Haltung bedeutet nicht, den Blick auf die Risiken zu vergessen. Wir müssen uns aktiv mit Herausforderungen wie Cybermobbing oder digitaler Desinformation auseinandersetzen. Und dazu brauchen wir mehr Augenmerk auf die Qualifizierung und Kompetenzentwicklung – sowohl bei den Lernenden als auch bei den Lehrenden. Der Austausch am Thementisch „Professionalisierung von Lehrpersonen in einer Kultur der Digitalität“ hat gezeigt, dass klassische Fortbildungsformate hier ausgedient haben. Lehrpersonen müssen bereit sein, sich auf diese neuen, sich ständig verändernden Rahmenbedingungen einzulassen und sich selbstorganisiert (zum Beispiel über Tutorials) und im Austausch mit Experten-Kolleginnen und -Kollegen in der eigenen Schule weiterzubilden. Es gibt kein Rezept für den optimalen Entwicklungsweg einer Schule. Entscheidungen müssen gut überlegt, gemeinsam getroffen und dann von allen mitgetragen werden. Dass der richtige Umgang mit Gefahren aber schlecht im Trockentraining, sondern viel mehr im konkreten Tun erfolgen kann bzw. muss, versteht sich von selbst.
Für Schulen gilt: geteilte Haltungen, klare Entscheidungen, gute Kommunikation
Auch über den „Einsatz von digitalen Plattformen“ hat sich ein Thementisch Gedanken gemacht und dabei festgestellt, wie wichtig es ist, Klarheit über die Verwendung bestimmter Kommunikationskanäle zu schaffen. Zudem sollen die Möglichkeiten des kollaborativen Austausches unter Lehrpersonen und mit den Lernenden gezielt genutzt werden, um den Wissenstransfer über diese Schienen konsequent aufzubauen. All dies bedarf einer sorgfältigen Planung und klarer Entscheidungen. Schulen brauchen Handlungssicherheit: Es kann nicht sein, dass Lehrpersonen nicht wissen, ob das Internet heute funktioniert oder Geräte zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang wurden an einem Thementisch „6 Thesen für einen Unterricht in Klassen mit mobilen Endgeräten“ u. a. auf die Vorteile einer 1:1-Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit Laptops oder Tablets hingewiesen.
Bildungsgerechtigkeit ist die größte und wichtigste Herausforderung unserer Zeit. In einer Kultur der Digitalität bestehen grundsätzlich sehr gute Voraussetzungen, um allen Teilhabe zu ermöglichen. Wir müssen uns aber der bestehenden Hürden für sozial Schwächere sehr genau bewusst sein, um die Schere nicht größer, sondern kleiner werden zu lassen, mahnten Diskutierende am Thementisch „Was haben Digitalisierung und Digitalität mit Bildungsgerechtigkeit zu tun?“
Philippe Wampfler, ein Deutschdidaktiker aus Zürich, findet klare Worte: „Bildung muss nicht digital werden. Bildung muss besser werden. Sie muss jungen Menschen helfen, sich zu entwickeln, zu lernen, sich in der Gesellschaft zu orientieren und zu positionieren.“ Dabei kommen Schulen zwangsläufig in Kontakt mit der Digitalität.
Wenn wir uns dagegen auflehnen, laufen wir Gefahr, aus der Schule eine Parallelwelt zu machen, die sich vom Leben „draußen“ immer mehr abkoppelt.