Schwerpunktthema Kreative Bildung

Im Chaos-Kosmos-Zustand

Donnerstag, 30.5.2019

Es ist etwas Alltägliches, kreativ zu sein. Alle Menschen – und auch die Tiere – sind es. Voraussetzung dafür sind Freiräume für das Herumschweifen und auch für das Abschweifen von Aufgaben und Zielen, ist Andreas Conca, Psychiater und Psychotherapeut, überzeugt. Er zeigt auf, wie Denken und Fühlen mit dem schöpferischen Tun verbunden sind.

Kreativität wird als schöpferisches Vermögen definiert. Im Unterschied zu analytisch denkenden Menschen vermögen kreative Menschen neue Aspekte und Ansätze zu Problem-Lösungen zu finden. Sie sind experimentierfreudig, einfallsreich, pfiffig, manchmal sogar abenteuerlustig, innovativ und wirken großteils unbelastet. Wer denkt hier nicht unweigerlich an Kinder – quirlige und freudige, neugierige und offene, voller Ideen? Und wer hält sich dann als nächsten Schritt nicht vor Augen, wie sich Menschen im höheren Alter durch die Lebensweisheit auszeichnen, während oft die schöpferische Komponente nachlässt? Sind Weisheit und Kreativität in der Lebensspanne eines Menschen Gegensätze oder sind sie nicht eher altersentsprechende Motoren der Sinnstiftung, des Werterelativismus und der qualitativen Lebensgestaltung für Individuen und Gesellschaft?

Was ist Kreativität?


Das Wort Kreativität enthält in seinem Wortstamm den Begriff „creare“, was schaffen und erschaffen bedeutet. Kreativität kann auch als divergentes Denken beschrieben werden. Kreativität wird durch zahlreiche kognitive und psychische Faktoren bestimmt. Wenn wir Menschen kreativ sind, schweifen wir von der Aufgabenstellung ab (divergieren), wenden uns belanglosen Dingen zu und schaffen so den notwendigen Freiraum, damit unser Gehirn auch abwegige Gedanken zur Lösung generieren kann.

Man könnte drei Gruppen kreativer Menschen unterscheiden: Erstens, brillante Menschen mit ungewöhnlichen, anregenden Ideen, die diese jedoch nicht realisieren.
Zweitens, kreative Menschen, die neue Einsichten und Ideen haben, sie auch realisieren, ohne dass die Öffentlichkeit Kenntnis davon nimmt. Drittens, schöpferische Menschen,
die die Kultur nachhaltig beeinflusst haben, zum Beispiel Curie, Leonardo, Mozart, Edison, Einstein, Levi-Montalcini, Picasso.
Kreativität kommt also in Sprache und Musik, Wissenschaft und Verhalten, Malen und technischen Fertigkeiten zum Ausdruck.

Was unser Gehirn macht, wenn wir kreativ sind


Wird Kreativität nämlich breit definiert, ist sie uns Menschen – aber auch den Tieren – eigen und kann einem Zufallsgenerator im Gehirn gleichgestellt werden.

Kreativität ist nicht mit Kunst oder künstlerischem Talent gleichzusetzen

Andreas Conca, Direktor des Psychiatrischen Dienstes im
Gesundheitsbezirk Bozen

Kreativität findet in der Tat im Gehirn statt und wir wissen, welche Areale unseres Gehirnes besonders bei kreativen Vorgängen aktiv sind. Dabei werden graue und weiße Substanz, die aus den Neuronen und der Glia bestehen, in umschriebenen Regelkreisen besonders aktiviert. Diese gleichzeitige Erregung und Hemmung der Zellen, die am ehesten einem geordneten chaotischen Zustand gleichzusetzen sind, nennt man Metaplastizität. Vorwiegend lässt sich dieser Prozess im sogenannten augennahen Stirngehirn insbesondere auf der rechten Seite nachweisen. Diese Gehirnregion ist in diesem Zustand wie in einem Straßennetz ganz dicht mit einer feinmotorischen Zentrale, einem Interessenimpulsgeber und einem positiven Gefühlsgenerator verbunden. Fast spiegelbildlich gegenüber wird die Gehirnaktivität aktiv deutlich gedrosselt. Alles spielt sich im Zeitbereich von Millisekunden ab und wird offensichtlich nicht bewusst gesteuert. Aus der Verdichtung einerseits und der Entdichtung anderseits stellen erregende und hemmende Nervenzellen sowie die Stützzellen die neurobiologische Basis für kreatives Denken dar.
Die damit verbundenen Denkprozesse, zu denen auch das Konzentrations-, das Auffassungsvermögen, die Erinnerungen und die assoziativen Fähigkeiten zählen, und die Gefühlsprozesse – überwiegend positive Emotionen – bestimmen die Dimensionen der Kreativität. Denken Sie an die Momente, in denen Sie die besten Ideen haben, gute Lösungen finden und die Gedanken kreativ schweifen lassen.

Was den kreativen Prozess beeinflusst

Es sind die Freiräume, das Verlassen eines wie immer gearteten Regelwerkes, das Aufheben von Normen, die unsere Kreativität in ihrem Wesen bestimmen. Es ist nicht verwunderlich und nachgewiesen, dass sich Kreativität im Dunkeln besser entfaltet, und zwar um dreißig Prozent. Also – einfach mal das Licht ausmachen. Warum ist das so? Im Dunkeln sind Hierarchien nicht sichtbar und es erfolgt eine Horizonterweiterung, auch Diffusion genannt, und öffnet
die Gedankenwelt.

Es sind die Freiräume, das Verlassen eines wie immer gearteten Regelwerkes, das Aufheben von Normen, die unsere Kreativität in ihrem Wesen bestimmen.

Andreas Conca, Direktor des Psychiatrischen Dienstes im
Gesundheitsbezirk Bozen

Jahrhundertelange Erfahrung, jahrzehntelange Forschungen und die daraus resultierenden zahlreichen geistes- und naturwissenschaftlichen Ergebnisse untermauern, wie mehrdimensional diese grundlegenden Prozesse sind: Sie werden von unseren Genen und unseren Beziehungen, unserer Umgebung und unserer Erziehung, unseren frühe(re)n Erlebnissen, unserer Kultur und Sozialisation, unserer Bildung und unserer Ernährung getriggert. Kreativität ist also etwas Angeborenes und gleichzeitig Erworbenes. Sie gehört allgemein zu den Lebewesen, hat eine menschliche und altersbedingte Dimension und ist auch eine ganz persönliche Charaktereigenschaft.
Kreative Menschen sind insgesamt weniger krank und können mit Stress etwas besser umgehen, aber nicht bedingungslos besser. Diese Vorteile treffen nämlich dann vor allem zu, wenn kreative Menschen sich um das Gleichgewicht zwischen freien und zielgerichteten Gedanken, positiven und negativen Gefühlen, Innovation und Tradition unter Einhaltung „gesunder“ Regeln bemühen können.
Kreativität ist damit sicherlich Teil der Resilienz, der sogenannten inneren Widerstandskraft in Krisensituationen. Diese Resilienz kann partiell auch erworben werden.
Kreativität lässt sich nicht lernen, aber sehr wohl lassen sich Flexibilität, das Rundum-Denken, das Relativieren und die Selbsthilfe fördern. Dafür braucht es in allen Lebenslagen und Lebensjahren, besonders in den ersten neun Jahren, Raum, Zeit, Wille und Überzeugung. In dieser Hinsicht haben Elternhaus, Kindergärten und Schulen eine ganz besondere Verpflichtung zu erfüllen.
Ein Gedanke der amerikanischen Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou kann beflügelnd wirken: „Kreativität kann man nicht aufbrauchen. Je mehr man sich ihrer bedient, desto mehr hat man.“

Andreas Conca, Direktor des Psychiatrischen Dienstes im
Gesundheitsbezirk Bozen

Andreas Conca, geboren in Mals, ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und Psychotherapeutische Medizin, Direktor des Psychiatrischen Dienstes des Gesundheitsbezirks Bozen, landesweiter Koordinator der Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. Er ist Vorsitzender der italienischen Gesellschaft für Psychiatrie und Lehrbeauftragter an den Universitäten Innsbruck, Brixen und Bozen sowie Mitglied der Südtiroler Ethikkommission. An der Fakultät für Bildungswissenschaften hält Professor Andreas Conca Lehrveranstaltungen zur „Neuropsychiatrie des Kindesalters“

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