Zeitlupe
Astrid Lindgren und ihr Einfluss auf die gewaltfreie Erziehung
„Pippi Langstrumpf“, „Michel aus Lönneberga“ oder „Ronja Räubertochter“: Astrid Lindgren war als weltberühmte Kinderbuchautorin nicht nur eine meisterhafte Erzählerin, sondern auch eine Verfechterin einer antiautoritären, gewaltfreien Erziehung.
Der Wunsch nach Freiräumen
Astrid Lindgren wurde 1907 in Vimmerby, Schweden, geboren und wuchs auf einem Bauernhof auf. Ihre Kindheit auf dem Land, die tiefe Verbundenheit mit der Natur und die eigene Familiengeschichte prägten viele ihrer Erzählungen. Ihre Bücher, die weltweit über 165 Millionen Mal verkauft wurden, sind bekannt für ihre lebendigen Charaktere. Die Autorin hat Freiräume und Naivität eingefordert, um die Grenzen der eigenen Fantasie nicht einzuschränken. Lindgrens Bücher klagen nicht an, sondern zeigen den Erwachsenen, wo sie vielleicht noch einmal über die Erziehung und den Umgang mit Kindern nachdenken sollten. Ihre frühen persönlichen Lebensumstände haben sicherlich zu ihrem späteren Fordern nach einem Sein auf Augenhöhe und der Bedürfnisorientierung bei Kindern beigetragen: Die 19-jährige Lindgren arbeitete bei einer Zeitung und musste ihren eigenen Sohn, der unter damals skandalösen Umständen aus einer Affäre mit dem Redaktionsleiter hervorgegangen war – für einige Jahre in eine Pflegefamilie geben. Die Zerrissenheit ihres Kindes, als sie es wieder zu sich holte, war für die junge Frau ein einschneidendes Erlebnis.
Die provokante Rede von 1978
Neben ihren literarischen Erfolgen war Astrid Lindgren auch eine engagierte Befürworterin der Kinderrechte. Ihr Aufruf zur gewaltfreien Erziehung während ihrer Rede „Niemals Gewalt!“, die sie am 22. Oktober 1978 bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hielt, wurde weltberühmt – und galt zu jener Zeit als derartige Provokation, dass sie von den Veranstaltern gebeten wurde, ihre Ansprache fallen zu lassen. Das tat die beharrliche Lindgren nicht.
„Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden?“
„Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen? Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern“, erklärte sie in ihrer Rede. „In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.“ Und sie betonte: „Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang.“
Eine wachsende Bewegung gegen Gewalt
Astrid Lindgrens Aufruf zur gewaltfreien Erziehung hat weltweit Anerkennung gefunden und zur Veränderung gesellschaftlicher Normen beigetragen. In Lindgrens Heimatland Schweden wurde bereits 1979 ein Gesetz verabschiedet, das körperliche Bestrafung von Kindern verbietet – als erstes Land weltweit. Diese Gesetzgebung war ein direktes Ergebnis der wachsenden Bewegung gegen Gewalt in der Erziehung, die durch Persönlichkeiten wie Lindgren gefördert wurde.
Astrid Lindgrens Einfluss beschränkte sich nicht nur auf Schweden. Ihre Bücher, die Werte wie Empathie, Mut und Gerechtigkeit vermitteln, sind in vielen Ländern Europas – und darüber hinaus – ein wichtiger Bestandteil der Kinderliteratur.
Dem gerne gepflegten Vorurteil, dass „eine Erziehung ohne Repression regellos sei“, widerlegte die Autorin in ihrer Rede übrigens entschieden: „Freie und unautoritäre Erziehung bedeutet nicht, dass man Kinder sich selbst überlässt, dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen aufwachsen sollen, was sie selber übrigens gar nicht wünschen. Ganz gewiss sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiss sollen Eltern auch Achtung vor ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre natürliche Überlegenheit missbrauchen. Liebevolle Achtung voreinander, das möchte man allen Eltern und Kindern wünschen.“
Quellenangabe:
- „Astrid Lindgren – Ihr Leben“, Jens Andersen