Ethikunterricht

„Ethik behandelt den Urinstinkt des Menschen“ 

Mittwoch, 20.3.2024

Die Einführung des Ethikunterrichts als verpflichtende Alternative zum Religionsunterricht in Südtirol steht kurz bevor. In Österreich gibt es das Fach in der Oberstufe schon seit einigen Jahren. INFO hat mit zwei angehenden Fachlehrerinnen in Wien unter anderem über die Herausforderungen des Unterrichtsfachs gesprochen. 

Am 19. März 2024 hat die Südtiroler Landesregierung die Verordnung zur Implementierung des Ethikunterrichts an Südtirols Schulen genehmigt.  Damit hat sie die Voraussetzungen geschaffen, dass Schulen ab dem Schuljahr 2024/25 in Form von Pilotprojekten den Ethikunterricht als verpflichtende Alternative zum Religionsunterricht einführen können. Konkret bedeutet dies, dass jeder Schüler und jede Schülerin, der oder die sich vom Religionsunterricht befreien lässt, in Zukunft den Ethikunterricht besuchen muss. Immerhin haben sich im Schuljahr 2023/24 11,5 Prozent von den 47.084 Schülerinnen und Schüler an den deutschsprachigen Schulen des Landes vom Religionsunterricht abgemeldet. Das Fach Ethik unterrichten sollen bereits berufstätige Lehrkräfte, die einen entsprechenden Ausbildungslehrgang, den Universitätsstudiengang „Angewandte Ethik“ an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen oder ein entsprechendes Lehramtsstudium besuchen. 

Die Notwendigkeit einer umfassenden Wertevermittlung und moralischen Orientierung für Schülerinnen und Schüler ist auch in Österreich erkannt worden. Dort hat die Diskussion um die Integration von Ethik als eigenständiges Fach in den Lehrplan der Schulen an Relevanz gewonnen, weshalb seit wenigen Jahren sogar ein sondierter Studiengang für das Unterrichtsfach an der Universität Wien angeboten wird.  
Die Frage nach einer fundierten ethischen Bildung im schulischen Kontext ist von entscheidender Bedeutung, um die Schülerinnen und Schüler nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch zu befähigen.  

Dem Ethikunterricht in Österreich geht ein umfassender Lehrplan voraus: Dieser beleuchtet verschiedene Themen, darunter Menschenrechte, diverse Formen von Familie, Partnerschaft und Freundschaft, sowie Glücksvorstellungen und Ethiken. Auch globale und lokale Umweltthemen, Gerechtigkeit, nachhaltige Entwicklung und Aspekte der Nachhaltigkeit werden eingehend betrachtet. Ebenso auf dem Programm sind religiöse Themen, wie die Beziehung von Religion und Staat, Glaubensgrundlagen sowie moralische Richtlinien von Judentum, Christentum und Islam, oder der ethische Status von Tieren, Tierrechte und Tierschutz sowie Fragen zu Sex und Gender. 
Der Lehrplan umfasst des Weiteren Konfliktforschung, Methoden der Konfliktlösung und gewaltfreie Kommunikation. Integration, Inklusion und der Umgang mit Behinderungen stehen ebenso im Fokus wie Konzepte von Identität und Theorien zur Moralentwicklung. Ursachen von Krieg und Terrorismus sowie Theorien des gerechten Krieges vervollständigen die thematische Bandbreite dieses anspruchsvollen Ethikunterrichts.  Anna Hollinger und Una Einhaus absolvieren gerade den Masterlehrgang Ethik. INFO hat die beiden angehenden Fachlehrpersonen unter anderem gefragt, welche Herausforderungen sie im Unterrichtsfach Ethik sehen.  

Anna Hollinger

INFO: Wie sehen sie die Rolle von Ethikunterricht in Bezug auf die persönliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler? 

Anna Hollinger: Der Ethikunterricht besitzt meiner Ansicht nach ein enormes Potenzial, einen bedeutenden Beitrag zur persönlichen Entwicklung von Schülerinnen und Schülern zu leisten. Der Ethikunterricht bietet Raum für die Diskussion einer Vielzahl von Themen. Hierbei besteht die Möglichkeit, die Ansichten anderer zu hören. 

Una Einhaus: Der Ethikunterricht bereichert die Lernenden enorm, indem er Raum für Fragen und Diskussionen zu moralischen Vorstellungen schafft: Was ist gut, was ist schlecht und was gibt es dazwischen? Er berücksichtigt viele Perspektiven und zeigt, dass dualistische Weltvorstellungen selten funktionieren und es oft Nuancen dazwischen gibt. Ein persönlicher Vorzug von Ethik ist für mich die Multiperspektivität und die Reflexion über verschiedene Dilemmata. Das Besondere ist, dass Ethik altersübergreifend angewendet werden kann, denn bereits Dreijährige haben ein Verständnis von Gut und Böse. Ethik behandelt sozusagen einen Urinstinkt des Menschen. 

Una Einhaus

Welche Herausforderungen erleben Sie im Unterrichtsfach Ethik, insbesondere im Umgang mit unterschiedlichen Wertesystemen der Schülerinnen und Schüler? 

Una Einhaus: Die Beantwortung dieser Frage ist äußerst komplex und hängt stark von den individuellen Dynamiken in der Klasse sowie dem Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zur Lehrperson ab. Es ist wichtig, Meinungspluralismus zuzulassen, jedoch gleichzeitig Grundwerte und eine gemeinsame Basis, beispielsweise in Form von Verfassungsnormen, zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist es besonders im Ethikunterricht interessant zu untersuchen, woher Wertesysteme stammen, wie sie sozial geprägt wurden usw. 

Welche Bedeutung hat der interkulturelle Dialog im Ethikunterricht, insbesondere in einer globalisierten Welt? 

Anna Hollinger: Im Ethikunterricht bietet sich eine bedeutsame Gelegenheit für alle Schülerinnen und Schüler, unabhängig von ihren religiösen Hintergründen, einen Raum für einen produktiven Diskurs zu schaffen. Dabei geht es nicht nur um das Erlernen von Lehrinhalten, sondern vor allem darum, voneinander zu lernen. In einer Welt, in der es zahlreiche Wertesysteme gibt, sehe ich die Chance, die Vielfalt dieser Systeme gemeinsam im Unterricht zu diskutieren, anstatt dass jede Religion ausschließlich ihr eigenes Wertesystem vermittelt. Meiner Ansicht nach wäre es spannender und bereichernder, dies im Ethikunterricht gemeinsam zu erkunden. 

Derzeit besteht in Österreich die Möglichkeit für Schülerinnen und Schüler, sich vom Religionsunterricht abzumelden und stattdessen den Ethikunterricht zu wählen. Diese Option hat zu einer kontroversen Debatte geführt. Wie stehen Sie dazu?  

Anna Hollinger: Die Einführung des Ethikunterrichts für Schülerinnen und Schüler, die sich vom Religionsunterricht abgemeldet haben, halte ich für einen bedeutenden Schritt. Ich plädiere ebenso für die Implementierung des Ethikunterrichts für alle. Der Ethikunterricht könnte einen wichtigen Raum für Diskussionen bieten, für die oft nicht genug Zeit bleibt. In vielen Unterrichtsstunden bemerke ich als Lehrperson das Interesse der Schülerinnen und Schüler an vertieften Auseinandersetzungen mit verschiedenen Themen und ich denke, diese Möglichkeit sollte ihnen geboten werden. Der Ethikunterricht kann die Argumentations- und Reflexionsfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler fördern, die ich als zentrale Kompetenzen betrachte. Zudem könnten Orientierungshilfen für die Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen zur eigenen Lebensgestaltung sowie zur Ethik und Moral angeboten werden. Bei einer möglichen Umsetzung sind klare Lehrpläne erforderlich, um Doppelungen zu vermeiden.  

Redaktion INFO

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