Vom geteilten Wissen zum gemeinsam verantworteten Handeln
Gute inklusive Bildung
In einer wissenschaftlichen Begleitstudie fokussiert ein Team um die Bildungswissenschaftlerin und Inklusionsforscherin Simone Seitz die schulentwicklungsbezogenen Prozesse im Rahmen der Initiative „Wege in die Bildung 2030 – guter Unterricht in der inklusiven Schule“ der Deutschen Bildungsdirektion. Die Studie strebt Erkenntnisse an, wie Schulen erfolgreich an gemeinsam getragenen Schulkulturen arbeiten können. Außerdem soll eine konkrete Methodensammlung entwickelt werden, die dann innerhalb von Schulen und/oder in der Fortbildung in der Breite eingesetzt werden kann. In einem Gastbeitrag erläutert Simone Seitz das Forschungsprojekt.
Qualitätsvolle Bildung ist zweifellos eines der wichtigsten gesellschaftlichen Ziele der laufenden Dekade. Nicht umsonst wird dies in der Agenda 2030, der internationalen Vereinbarung zur nachhaltigen Entwicklung (UNESCO), herausgestellt. Dabei wird hochwertige Bildung als inklusive Bildung ausbuchstabiert und mit dem Abbau sozialer Ungleichheit verknüpft. Ein inklusives Bildungssystem wie das hiesige bietet folglich umgekehrt gedacht besonders gute Möglichkeiten, hohe Qualität im Bildungsbereich zu realisieren, denn die Präsenz aller Kinder und Jugendlichen im Kindergarten und in der Schule ist strukturell sichergestellt. Die damit verbundenen Anforderungen eines didaktisch konstruktiven Umgangs mit der Diversität des Lernens und eines ungleichheitskritischen pädagogischen Handelns können unter diesen Bedingungen besonders gut als Motoren für die Professionalität von Lehrpersonen und für Schulentwicklungsprozesse wirken.
An diese Überlegungen knüpfen wir in unserem laufenden Forschungsprojekt an. In der wissenschaftlichen Begleitstudie GOODWILL (Researching school development: Pathways to inclusive quality Education; 2023-2026) fokussieren wir die schulentwicklungsbezogenen Prozesse im Rahmen der Qualitätsinitiative „Wege in die Bildung 2030 – guter Unterricht in der inklusiven Schule“ der deutschen Bildungsdirektion (https://www.provinz.bz.it/bildung-sprache/deutschsprachige-schule/schueler-eltern/schwerpunktthema-wege-in-die-bildung-2030.asp).
An diesem dreijährigen Pilotprojekt nehmen sechs Schulen/Schulsprengel aller Schulstufen der Provinz Bozen teil. Im Auftrag der Bildungsdirektion werden sie in den Schuljahren von 2023/2024 bis 2025/2026 von Beratungstandems im Schulentwicklungsprozess begleitet und supervidiert (vgl. https://www.infobz.it/mut-zur-veraenderung/). Innerhalb dieses adaptiv an die spezifischen Bedarfe der einzelnen Schulen angepassten Schulentwicklungsprogramms bilden sich die Kollegien außerdem im Format von Fortbildungen weiter. Diese Verknüpfung von Prozessbegleitung und Fortbildung hat sich bereits in vergleichbaren Schulentwicklungsprozessen, die ich wissenschaftlich begleitet habe, positiv bewährt, sodass ich persönlich vor allem diesem Kniff innerhalb der Projektarchitektur ein hohes Innovationspotenzial zuschreibe.
Bezogen auf die Fortbildungsanteile sind außerdem zwei konzeptionelle Aspekte als vielversprechend hervorzuheben: erstens die Möglichkeit der Schulen, die inhaltlichen Schwerpunkte von Fortbildungen anhand spezifischer Module gezielt anwählen zu können und zweitens, jeweils als gesamtes Kollegium daran teilzunehmen. Denn während Kurzzeit-Fortbildungen, die nur einzelne Personen adressieren, oftmals zu „Eintagsfliegen“ werden, deren Impulse im Schulalltag schnell verpuffen, kann im vorliegenden Fall vermutet werden, dass die Interventionen eine tiefere und langfristigere Wirksamkeit entfalten, denn sie sind im Kollegium kommunizierbar und können in die Schulkulturen integriert werden.
Partizipation als Schlüsselstelle inklusiver Qualität von Schule
Von den projektbezogenen Erfahrungen in den Pilotschulen sollen natürlich letztendlich alle Schulen profitieren, denn es wird ein Transfer der Strategien, die sich als ertragreich erweisen, in die Breite angestrebt, wozu wir mit unserer Forschung einen Beitrag leisten wollen. Im Fokus unserer hierauf bezogenen Begleitstudie stehen entsprechend die Fragen, wie Schulen in inklusionsbezogenen Unterrichts- und Schulentwicklungsprozessen gestärkt werden können, wie die unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure dies erleben und was andere Schulen von den Prozessen lernen können. Dabei beziehen wir in unsere Forschung neben den professionellen Akteurinnen und Akteuren auch die Adressatinnen und Adressaten von schulischer Bildung ein – die Kinder und Jugendlichen –, denn eine wesentliche Schlüsselstelle inklusiver Qualität von Schule ist Partizipation.
Aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen wollen wir übertragbare Hinweise einerseits für die gesamte Schullandschaft des Landes sowie andererseits für die weitere Ausgestaltung inklusiver Bildung auch im internationalen Feld entwickeln. Denn schulische Inklusion ist in vielen europäischen Ländern strukturell weniger gut entwickelt als bei uns und wir erhoffen uns daher auch Hinweise für andere Bildungssysteme. Wie eine gute inklusive Schule aussehen soll, kann nämlich mittlerweile forschungsbasiert recht gut beschrieben werden. Wenig Wissen gibt es jedoch über den genauen Weg dorthin. Wir nehmen daher in unserer wissenschaftlichen Begleitstudie Bezug auf vorliegende Erkenntnisse dahingehend, dass Schulentwicklungsprozesse mit der Professionalisierung der einzelnen Lehrpersonen verbunden sind, sich dieser Zusammenhang aber noch nicht gut genauer erklären und beschreiben lässt. Vorliegende Schriften zur inklusionsbezogenen Qualität von Unterricht und Schulleben verbleiben daher vielfach auf der Ebene von Forderungen. Genaueres Wissen dazu, was die Pilotschulen im Projekt auf ihrem Weg stärkt und wie die Interventionen innerhalb von Prozessbegleitung und schulinterner Fortbildung genau wirken, ist folglich ein vielversprechender Ausgangspunkt, um die hier gewonnenen Erkenntnisse nach außen zu kommunizieren, erfolgreiche Strategien in die Breite zu übertragen und das gewonnene Wissen in den Fachdiskurs einspeisen zu können.
Schule als lernende Organisation
Wir begreifen dabei Schulen als lernende Organisationen. Das bedeutet, wir gehen von der Annahme aus, dass Schulentwicklungsprozesse im Rahmen von Prozessbegleitungen nicht einfach von außen verkündet werden können, um dann direkt in eine Anwendung zu münden. Anders gesagt funktioniert: „Werdet eine gute inklusive Schule!“ als Imperativ nicht, denn das Handeln der Einzelnen hängt mit pädagogischen Überzeugungen zusammen, die sich im Rahmen von Schulkulturen entwickeln und den Beteiligten oftmals nur zum Teil bewusst sind. Schulkulturen drücken sich daher nicht nur in den öffentlich zugänglichen Dokumenten wie zum Beispiel in den Dreijahresplänen aus, sondern auch in den „ungeschriebenen“ Regeln einer Schule. So ist zum Beispiel bezogen auf Partizipation als wichtigem Qualitätsindikator neben der strukturellen Frage, welche Mitbestimmungsgremien es an der Schule gibt, in denen Schülerinnen und Schüler ihre Interessen einbringen können, schulkulturell relevant, ob sich die Kinder und Jugendlichen hier offen zu Wort melden, wenn sie eine diskriminierende Situation beobachten oder eben nicht – und natürlich wie dann damit pädagogisch umgegangen wird. Schulkulturelle Weiterentwicklungen sind also keine einfach anzuwendenden Werkzeuge und können auch nicht einfach „verordnet“ werden. Vielmehr erfordern sie moderierte und intensive Kommunikation der Beteiligten, damit auch die unbewusst leitenden Werte und pädagogischen Prinzipien innerhalb einer Schulkultur reflektiert und gemeinsam weiterentwickelt werden können.
Verzahnung von Prozessbegleitung und schulinterner Fortbildung
Aufbauend auf diesen Überlegungen vermuten wir, wie oben bereits angesprochen, in der Verzahnung von Prozessbegleitung und schulinterner Fortbildung innerhalb des Projekts „Wege in die Bildung 2030“ einen wichtigen Gelingensfaktor, denn wir wissen aus vorliegenden Studien, dass inklusionsbezogene Unterrichts- und Schulentwicklung besonders gut gelingt, wenn Lehrpersonen sich gegenseitig vertrauen und auch, dass die kollegiale Arbeit an pädagogischen und didaktischen Grundüberzeugungen positiv mit weit entwickelten Schulkulturen zusammenhängt. Zusammenarbeit ist daher insgesamt ein breit abgesicherter Vorhersagewert für hohe inklusionsbezogene Qualität von Schule, zugleich jedoch – auch dies zeigt die Forschung – eine im schulischen Alltag viel zu wenig genutzte Ressource, und wir hoffen dies über unsere Forschung genauer beschreiben und entsprechende Impulse zur Stärkung von Kooperation formulieren zu können.
Besondere Aufmerksamkeit gilt in unserer Begleitforschung außerdem dem Unterricht: Wir legen dabei auf der Zielebene ein Verständnis von inklusivem Unterricht zugrunde, demzufolge sich jedes Kind und jeder Jugendliche in der Schule als Person anerkannt, zum Lernen herausgefordert und sozial zugehörig fühlt. Dies bedeutet den Abschied von einem Unterricht im „Gleichschritt“, in dem alle Kinder zur gleichen Zeit das Gleiche auf die gleiche Art und Weise lernen sollen, um zum gleichen Zeitpunkt gleiche Ziele zu erreichen. Anders gesagt: Es bedeutet den Abschied von der Illusion der Homogenität. Denn im öffentlichen Denken und gespeist aus den eigenen biografischen Erfahrungen eines an Homogenität ausgerichteten Unterrichts, stoßen wir vielfach auf die Alltagsvorstellung, Unterrichten würde umso schwieriger, je heterogener eine Lerngruppe sei. Schnell führt das zu der Schlussfolgerung, dass guter Unterricht bei „zu viel“ Heterogenität nicht mehr möglich sei. Dies gilt aber nur, wenn Lehrpersonen versuchen, in inklusiven Settings nach dem beschriebenen „alten Strickmuster“ der Gleichbehandlung aller zu unterrichten. Dann stoßen sie schnell an Grenzen oder fühlen sich überfordert, denn – um in der Metapher zu bleiben – die einzelnen Fäden des Strickwerks sind zu unterschiedlich und lassen sich nicht einfach mit dem gleichen Handgriff „verstricken“.
Kernpunkt inklusiver Didaktik ist vielmehr die Frage nach der Verbindung gemeinsamen und individuellen Lernens.
Simone Seitz
Vertrauensvolle pädagogische Beziehungen und Planungsflexibilität
Gerade in einem vielfältigen Gewebe liegt umgekehrt gedacht das spezifische Innovationspotenzial inklusiver Strukturen für Unterrichtsqualität, das den Unterricht vielfältiger und reichhaltiger machen kann. Die gedankliche Öffnung für die Verschiedenheit der Persönlichkeiten, Lebenslagen, Potenziale, Ausdrucksformen und Lernweisen von Kindern und Jugendlichen ist daher ein Grundbaustein didaktischen Handelns im inklusiven Unterricht – zusammen mit der Frage, was alle Lernenden miteinander verbindet. Inklusiver Unterricht lädt somit zum Abschied von Planungsmodellen entlang eines standardisierten Lernziels ein, erschöpft sich jedoch nicht in differenzierenden Angeboten oder des individualisierten „coachings“ Einzelner. Kernpunkt inklusiver Didaktik ist vielmehr die Frage nach der Verbindung gemeinsamen und individuellen Lernens. Die entscheidende Expertise, die Lehrpersonen innerhalb eines inklusiven Systems entwickeln können, das haben wir in unseren bisherigen Studien zeigen können, besteht entsprechend darin, soziale Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit sowie Individualisierung im Sinne individuell herausfordernden Lernens gleichzeitig didaktisch zu realisieren. Dem aktuellen Wissensstand folgend drückt sich eine hohe Qualität inklusiven Unterrichts entsprechend vor allem in didaktischen Arrangements aus, die im Rahmen geöffneter Unterrichtsformate ein dialogisches Lernen zwischen unterschiedlich Lernenden erlauben, um so Bildungsgehalte vielfältig erschließen und auf unterschiedlichen Niveaus bearbeiten zu können. Notwendige Basis hierfür sind zum einen vertrauensvolle pädagogische Beziehungen und Planungsflexibilität.
Impulse zur Weiterentwicklung der inklusiven Bildungslandschaft
Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass zwar ausgearbeitete Konzepte für inklusiven Unterricht vorliegen, dies aber bezogen auf die Professionalisierung von Lehrpersonen für inklusiven Unterricht und die Einbettung in Schulentwicklungsprozesse nicht in der gleichen Weise der Fall ist. Vor allem ist die Frage nach der Initiierung und Verstetigung von entsprechenden Qualitätsentwicklungsprozessen und hier eingebettete Fortbildungs- und Prozessbegleitungsformate noch größtenteils unbeantwortet.
Durch die Beschreibungen und Analysen zu ertragreichen Strategien der Schul- und Unterrichtsentwicklung im Rahmen des Projekts „Wege in die Bildung 2030“ wollen wir daher dazu beitragen, dass die inklusive Bildungslandschaft in Südtirol Impulse zur Weiterentwicklung erhält und zugleich international stärker wahrgenommen wird.
Wir streben somit in unserer wissenschaftlichen Begleitstudie übertragbare Erkenntnisse dazu an, wie Schulen erfolgreich an gemeinsam getragenen Schulkulturen arbeiten können und wollen hieraus neben theoretischen Fundierungen auch eine konkrete Methodensammlung entwickeln, die dann innerhalb von Schulen und/oder in der Fortbildung in der Breite eingesetzt werden kann. Insofern ist schon jetzt allen beteiligten Kindern und Erwachsenen aus den Schulen dafür zu danken, dass sie uns ihre Türen öffnen und uns forschende Einblicke in ihre Praxis ermöglichen, denn nur so ist es möglich, praxisbezogen reflektiertes und erfahrungsbasiertes wissenschaftliches Wissen und Methoden zu entwickeln, wovon dann andere Schulentwicklungs- und Steuerungsprozesse profitieren können. Damit dies möglich wird, stehen wir während des gesamten Forschungsprozesses in engem Dialog mit dem Projektpartner und dem Praxisfeld, um auch schon während des Forschungsprozesses Einschätzungen und Hypothesen gemeinsam mit den Beteiligten reflektieren zu können. Letztlich geht es folglich neben dem geteilten Wissen auf Schulebene auch um ein solches zwischen Bildungswissenschaft und Bildungspraxis und damit um einen Wissenstypus, der Erfahrung, Verstehen, Erklären und Reflektieren unmittelbar verknüpft.
Simone Seitz lehrt als Professorin für allgemeine Didaktik mit Schwerpunkt Inklusion an der Freien Universität Bozen.