Interview mit Wolfgang Kindler
Hinschauen, Nachdenken, Intervenieren
Wolfgang Kindler, Experte für Konflikt-Kommunikation und Mobbingintervention, beleuchtet Mobbing und Konflikte in Schulen sowie effektive Maßnahmen zur Prävention und Intervention.
Wolfgang Kindler war Gymnasiallehrer für die Fächer Deutsch, Pädagogik und Sozialwissenschaften in Recklinghausen im Ruhrgebiet und arbeitet als Fortbilder und Coach im Bereich der Konflikt-Kommunikation sowie Mobbingintervention und -prävention. Am 10. und 11. Oktober referiert der Mobbingexperte im Zuge der Herbsttagung der Kindergarten- und Schulführungskräfte in Südtirol zum Thema „Führung in herausfordernden Situationen“.
INFO: Ist die schulische Umgebung aktuell besonders von Mobbing und Konflikten geprägt? Oder war das schon immer so?
Wolfgang Kindler: Nach der Coronakrise, in der die Lernenden von Gruppenerlebnissen ausgeschlossen wurden, haben sich schulische Konflikte allgemein verschärft. Den Lernenden fehlen Jahre von Gruppenerfahrungen. Hier ist die Schule besonders gefordert. Insgesamt kann ich sagen, dass es Mobbing und Konflikte schon „immer“ gab. So werden zum Beispiel in Märchen Mobbingprozesse beschrieben, noch bevor es die Schulpflicht gab.
Mobbing spielte allerdings bis vor circa 30 Jahren in der Pädagogik nur eine untergeordnete Rolle.
Von welchen Formen des Mobbings sind Schülerinnen und Schüler besonders betroffen?
Die Formen von Mobbing unterscheiden sich je nach Schultyp und Alter der Lernenden erheblich. Ungefähr ab der 4. Klasse wird Mobbing zusätzlich durch soziale Medien ausgetragen, wobei Cybermobbing in der Schule keine eigene Gewaltform ist. Cybermobbing ist ein schrecklich effektives Werkzeug. Körperliche Gewalt wird mit wachsendem Alter dagegen seltener. Fast immer werden Opfer in der Klasse, Gruppe sozial isoliert.
Was ist der Unterschied zwischen Mobbing und Konflikt?
Ein Konflikt ist ähnlich wie ein Streit. Er kommt in jedem Alltag vor. Er tritt auf, wenn Personen befürchten, dass im weitesten Sinne ihre Interessen nicht wahrgenommen werden können. Mobbing dagegen geschieht auf der Basis von Ungleichheiten. Das Opfer reagiert auf Übergriffe gegen seine Person hilflos. Die Übergriffe können verbal oder/und physisch erfolgen. Jetzt kommt eine zweite Bedingung hinzu. Die Übergriffe wiederholen sich, ebenso die Hilflosigkeit des Opfers. Und die vielfache Erfahrung der Hilflosigkeit ruft bei dem Opfer, den Mobbenden und den scheinbar Neutralen auf die Dauer die Verinnerlichung der Rollen hervor. Das Opfer fängt an, sich selbst als Opfer zu definieren, was langfristig zu einer Veränderung der Persönlichkeit führt.
Mobbing in der Schule: Wie können, dürfen und sollen Lehrerpersonen handeln?
Das hängt ganz von den unterschiedlichen Formen von Mobbing ab. Ich muss auf einen sexuellen Übergriff anders reagieren als auf das Ärgern.
Wichtig ist, dass Lehrpersonen gegen Mobbing vorgehen und versuchen, die Klasse zu gewinnen. Mobbing ist nur möglich, weil es von der jeweiligen Gruppe zugelassen wird.
Wie sollte sich das Schulpersonal idealerweise in solchen Situationen verhalten?
Zunächst gilt es, das Mobbing im Vorfeld durch guten Kontakt zur Klasse und durch ein positives Rollenvorbild zurückzuweisen. Meine Erfahrung ist, dass es möglich ist, Schülerinnen und Schüler durch Beteiligung gegen Mobbing zu aktivieren. In konkreten Situationen sollten Lehrpersonen den Blick auf die Gesamtgruppe bewahren. Viele Übergriffe beschreiben nicht nur individuelle Aggressionen, sondern geben gleichzeitig den Blick auf eine gestörte Klasse frei. Hier sollten die Lehrpersonen Erfahrenes und Beobachtetes austauschen, reflektieren, ob es sich um Mobbing handelt und ein gemeinsames Vorgehen entwickeln.
Wie sieht „gute Führung in herausfordernden Situationen“ aus?
Die Schulführung sollte sich eindeutig gegen Mobbing positionieren. Sie sollte überlegen, welche Strukturen bei ihrem Lehrpersonal hilfreich und möglich sind, um präventiv und intervenierend gegen Mobbing vorzugehen. Auch hier ist die Beteiligung der Lehrpersonen von zentraler Bedeutung. Die Führungskraft steht oft im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, da Mobbing die Eltern häufig zu einer starken Beteiligung motiviert. Hier ist die Unterstützung der Lehrpersonen notwendig, ebenso notwendig ist es, mit Fehlern der Schule klar umzugehen. Ich möchte einen Gedanken, der meine Antworten durchzieht, wiederholen: „Es gibt nicht das Mobbing und es gibt nicht die Maßnahmen. Mobbing erfordert genaues Hinschauen, Nachdenken und gemeinsames Vorgehen.“