Schule/Studium anderswo: Interview mit Studentin/ Lehrerin der Inklusiven Pädagogik Christina Jakober

„Inklusion ist sozial und nicht fachlich determiniert!“

Dienstag, 11.7.2023

Benötigt ein inklusives Schulsystem besondere Ressourcen und explizit geschultes Personal? Österreich sagt: Ja! Aus diesem Grund führte das österreichische Bildungssystem vor einigen Jahren das Studium der Inklusiven Pädagogik ein. So können nun Lehramtsstudierende in Wien und Graz neben den typischen Unterrichtsfächern wie Deutsch, Geschichte und Sport auch das Fach „Inklusive Pädagogik“ studieren. Christina Jakober absolviert in diesem Sommer ihr Lehramtsstudium in diesem Fach und arbeitet bereits als Inklusionslehrerin in einem sogenannten „Zentrum Inklusive Schule“. INFO hat sich mit ihr getroffen und über das Studium und die Berufsrealität als inklusive Lehrkraft gesprochen.

INFO: Christina, was genau ist das Studium „Inklusive Pädagogik“?

Christina: An der Uni Wien ist das Lehramtsstudium wie folgt aufgebaut:  Auf dem Institut der Allgemeinen Bildungswissenschaft gibt es Kurse, die für alle Studierenden verpflichtend sind – also Pädagogikveranstaltungen, daneben muss man zwei Unterrichtsfächer, zum Beispiel Deutsch und Sport, studieren. Eines der vielen Unterrichtsfächer, die man wählen kann, ist Inklusive Pädagogik. So wie sich die Deutschstudierenden mit den verschiedenen literarischen Epochen beschäftigen, setzt mein Studium inklusive Schwerpunkte rund um die Vielfalt der Gesellschaft.

Die da wären?

Ich habe mich in meinem Studium besonders mit der Behindertenkonvention, Behindertenrechte, der Geschichte von Inklusion und den verschiedenen Begriffsdefinitionen, also der Frage „Was darf man sagen und was nicht?“ auseinandergesetzt. Das Studium fokussiert sich hauptsächlich auf den Umgang mit Menschen mit Behinderung im schulischen Kontext. Hier kann man individuelle Schwerpunkte setzen. Ein Schwerpunkt kann auf der sprachlichen und sensorischen Entwicklung liegen, ein anderer auf der emotionalen und sozialen oder auf der kognitiven und motorischen Entwicklung. Jede Art von Behinderung wird im Studium thematisiert. Ich habe mich auf die emotionale und soziale Entwicklung spezialisiert.

Unterrichtest du dann das Fach „Inklusive Pädagogik“ oder worauf zielt deine Ausbildung ab?

Nein. Auch wenn das Studium der Inklusiven Pädagogik wie ein Zweitfach studiert wird, unterrichtet man in der Schule nicht Inklusive Pädagogik als Fachgegenstand. Die Arbeit einer Inklusionslehrkraft findet vor allem auf dem Boden ehemaliger „Sonderschulen“ statt. Auch wenn in Österreich der Begriff der Sonderschule per se abgeschafft wurde, sind die Strukturen dieselben geblieben und wurden lediglich in „Zentrum inklusive Schule“ oder„Lernwerkstatt“  umbenannt. Die Ausbildung zielt also darauf ab, in solchen Schulen oder anderen Schulen mit Integrationsklassen zu unterrichten.

Wie sieht der Arbeitsalltag als Inklusions-Lehrkraft aus?

In Integrationsklassen wird man  als „I-Lehrerin“ – früher sagte man Stützlehrerin – neben der Hauptlehrerin des Faches, zur zusätzlichen Unterstützung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen eingesetzt. In den „Zentren Inklusive Schule“ ist man hingegen selbst Hauptlehrperson mit zwei Sonderpädagoginnen und -pädagogen an der Seite. Aktuell unterrichte ich in einem solchen Zentrum in einer Mehrstufenklasse. Dort unterrichte ich von Englisch über Mathematik,  und  Deutsch bis hin zu Sport, Geschichte und Geografie, einfach alles.

Wer besucht deine Klasse?

In meiner Klasse sind Schülerinnen und Schüler, die keine Eins-zu-eins-Betreuung , also Pflege oder Ähnliches brauchen, wie bei Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen oder nonverbalen Kindern. Die Lernenden in meiner Klasse weisen Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten auf, früher wurden diese als „kognitive Beeinträchtigungen“ bezeichnet.

Wie funktioniert dein Unterricht?

In meiner Klasse befinden sich 13 Schülerinnen und Schüler von zehn bis 14 Jahren mit komplett individuellen Bedürfnissen. Das bedeutet für mich, dass ich meinen Unterricht auf jedes Kind anpassen muss, daher differenziere ich  ihn in verschiedene Stufen, sodass jedes Kind dazu befähigt wird, sich selbstwirksam zu erfahren.

Wie definierst du Inklusion?

Der Gedanke der Inklusion, dass alle Menschen, alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Chancen bekommen, finde ich super. Die Erkenntnis, dass wir alle voneinander, von unserer Individualität und unseren Bedürfnissen lernen können, sollte sowohl in der Gesellschaft als auch im Bildungssystem angestrebt werden. Inklusion bedeutet für mich aber nicht, dass alle Kinder zwanghaft dieselben Unterrichtsinhalte in einer gemeinsamen Klasse oderSchule lernen sollen.

Wieso?

Inklusion bedeutet für mich, dass ich jedes Kind innerhalb der Gemeinschaft genau dort abhole, wo es sich befindet und ihm oder ihr das Gefühl vermittle, dass es auch einmal okay ist etwas nicht zu können und nicht zu verstehen. Wenn ein Kind beim dreizehnten Mal die Dezimalreihen nicht beherrscht, dann kann es das vielleicht einfach nicht und das ist auch in Ordnung, da die Stärken des Individuums vielleicht in einem anderen, kreativeren Bereich liegen. Der Gedanke, dass bei einer Klasse mit 22 Kindern alle dasselbe machen, ist utopisch, das funktioniert nicht und das benachteiligt und über- oder unterfordert die Lernenden. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Inklusion wird vom sozialen inklusiven Raum determiniert und nicht vom fachlichen Arbeiten. Auf der fachlichen Ebene muss im Sinne der Lernenden differenziert gearbeitet werden. Alte Normen und Ziele der Schulausbildung müssen progressiv weiterentwickelt werden. Vielleicht ist es heute gar nicht mehr notwendig, dass jedes Kind perfekt Rechtschreiben oder multiplizieren kann.

Was gefällt dir an deinem Beruf als inklusive Lehrkraft?

Das Coole an meinem Klassenraum ist, dass dieser die Gesellschaft widerspiegelt, mit all ihren „Macken und Kanten“. Diese Welt ist bunt und das darf ich jeden Tag aufs Neue sehen und mir über die Pluralität der Gesellschaft bewusstwerden. Auch wenn es in Österreich spezielle Einrichtungen wie die ehemaligen „Sonderschulen“ gibt, befinden sich in jeder Klasse einer jeden Schule, eines jeden Gymnasiums usw. Kinder mit I-Bedarf. Der Inklusions-Bedarf beginnt ja nicht mit körperlichen oder emotionalen Sonderbedürfnissen, sondern wird auch sozial bestimmt, wie bei Schülerinnen und Schülern, die sozioökonomisch zu Hause benachteiligt werden oder mentale Probleme aufweisen. Wir alle haben irgendwo einen Inklusions-Bedarf, weshalb Inklusion uns allen zugutekommt und nicht nur einer Randgruppe der Gesellschaft.

Info-Red

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