Lernen mit mehr Eigenverantwortlichkeit 

Mittwoch, 18.9.2024

Was sind sogenannte Klein- und Kleinstschulen, die früher gemeinhin als Zwergschulen bekannt waren, und was zeichnet sie aus? INFO wollte es genau wissen und hat Annemarie Augschöll Blasbichler gefragt. Sie ist Universitätsprofessorin, leitet das Forschungs- und Dokumentationszentrum zur Südtiroler Bildungsgeschichte an der Freien Universität Bozen und forscht seit Jahren zu diesen besonderen Bildungseinrichtungen. 

INFO: Frau Augschöll Blasbichler, was macht eine Schule zu einer Klein- bzw. Kleinstschule? 

Annemarie Augschöll Blasbichler: Eine Kleinstschule bezeichnet eine Schulorganisation mit nur einer Klasse für alle fünf Jahrgangsstufen, von bis zu 14 Kindern. Sind es mehr Kinder, werden sie getrennt. Schulen mit mehreren jahrgangsübergreifenden Klassen sind Kleinschulen. In Südtirol sind mehr als die Hälfte aller Schulen solche Kleinschulen mit jahrgangsübergreifenden Klassen – es gibt also relativ viele. 

Was zeichnet die Organisation in diesen Schulen aus? 

Die Organisation von fünf Jahrgängen in einer Klassengemeinschaft ist komplex, allerdings gut vorbereitet entspricht sie genau dem, was die neueste Lernforschung als ideales Lernumfeld bezeichnet. 

Annemarie Augschöll Blasbichler


Was ist mit idealem Lernumfeld gemeint und was bedeutet das für die Kinder und die Lehrpersonen? 

Die Altersdurchmischung lässt keinen Unterricht im Gleichschritt zu. In Kleinst- und Kleinschulen vollzieht sich Unterricht nicht im klassischen Verständnis, in dem eine Lehrperson Lerninhalte vermittelt. Der Heterogenität der Kinder kann die Lehrperson lediglich durch eine gute Planung von individualisierten Lernanlässen begegnen. Der Aufwand dafür ist hoch, weshalb wir in diesen Schulen in der Regel besonders motivierte Lehrerinnen und Lehrer finden. Während der Schulzeiten sind sie mehr Lernberaterinnen und -berater sowie Lernbegleiterinnen und -begleiter. In dieser Weise organisiert, lässt Lernen auch individuelle Zugänge zu, fördert und fordert Eigenständigkeit, Eigenverantwortung und eine aktive Auseinandersetzung mit dem Lernstoff. Somit wird Lernen individualisiert, offen, lebendig und damit für die Kinder auch interessant und nachhaltig. 

In Südtirol haben wir zudem das Glück, dass auch in Kleinstschulen immer zwei Lehrpersonen (in Teilzeit) die Hauptfächer und je eine Lehrperson für Italienisch und für Religion beauftragt sind. Das finde ich besonders wichtig, da somit ein Team und nicht nur eine Person dafür verantwortlich ist, zu planen, was die Kindergruppe und die einzelnen Kinder an optimaler Lernumgebung und Lernbegleitung brauchen. 
 
Es braucht vermutlich sehr viel Flexibilität … 

Ich muss sagen, dass wir mit den Südtiroler Rahmenrichtlinien für alle Schulstufen generell auf die Organisation von Lernanlässen im eben erklärten Sinne ausgerichtet sind. Wir haben Vorzeigeschulen in Südtirol, die diesen Rahmen nutzen und andere, die sich diesbezüglich weniger Mühe geben. Denn eines ist sicher: Der „klassische“ Unterricht bedeutet für die Lehrpersonen sicherlich weniger Vorbereitung und wird auch von vielen Eltern als gewohnter Unterricht toleriert.  

Die Kleinst- und Kleinschulen können, wie gesagt, keinen 0-8-15-Unterricht anbieten. Sie nutzen die Möglichkeiten der Rahmenrichtlinien umso mehr und sind entsprechend auch für angehende Lehrer und Lehrerinnen im Studium oft Best-Praxis-Beispiele. 

Werden die Klein- und Kleinstschulen denn politisch unterstützt oder eher argwöhnisch betrachtet? 

Kleinstschulen gibt es in Südtirol aktuell 14 – und sie werden politisch unterstützt. Diese Schulen sind in den meisten Fällen auch ein sozialer und kultureller Treffpunkt und somit eine wichtige Ressource im Dorf. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb sich neben den Eltern auch die Gemeinden selbst sehr für den Erhalt der Schulen einsetzen. Die kulturelle und soziale Funktion einer Kleinschule für die gesamte Dorfbevölkerung ist sicherlich von Bedeutung, allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Schule in erster Linie den Kindern einen guten Lern- und Lebensraum bieten muss. In diesem Kontext ist es wichtig, dass sich die Verantwortlichen auch mit den Restriktionen ganz kleiner Schulen auseinandersetzen. 

Welche Restriktionen gibt es Ihres Erachtens und wie geht man mit ihnen um? 

Ein Nachteil kann die kleine Sozialgemeinschaft der Schulkinder sein. Es gibt weniger Möglichkeiten, Freundschaften zu knüpfen und andere Kinder mit gleichen Interessen zu finden. Die Lehrperson muss dies sehr gut im Auge behalten. Andererseits gibt es aber auch weniger Konkurrenzdenken. Die meisten Kinder besuchen neben der Schule Vereine oder die Musikschule und kennen dadurch viele andere Kinder.  

Heute geht viel online – einige Kleinstschulen sind untereinander auch mit Kleinstschulen in anderen Ländern, zum Beispiel in der Schweiz in Kontakt, erarbeiten zusammen Themen und treffen sich auf Ausflügen. Inzwischen bauen wir das Netzwerk weiter international aus und tauschen uns mit Schulen in Finnland und Norwegen, aber auch in Neuseeland und Kanada aus. 

Schülerinnen und Schüler der Kleinstschule St. Oswald/Kastelruth

Sie sprechen von einem Netzwerk. Was meinen Sie damit? 

Zusammen mit Florian Thaler von der Grundschule Planeil habe ich das Netzwerk „Kleinstschulen” aufgebaut. Es zielt darauf ab, dass sich Lehrpersonen zusammengefasst darüber austauschen, wie sie unter den besonderen Rahmenbedingungen gegebene Ressourcen bestmöglich nutzen und Restriktionen bestmöglich bearbeiten können. In diesem Rahmen haben wir auch das Projekt „WeltwissenPaten“/der „WeltwissenPatin“ kreiert. 

Worum geht es in diesem Projekt genau? 

Die Schülerinnen und Schüler von Kleinstschulen wachsen meist in einem kleinen und sehr homogenen Umfeld auf: Die Menschen in ihrem Umfeld üben oft ähnliche Berufsbilder usw. – das ist eine Feststellung, keine Wertung. Mit „WeltwissenPaten“ möchten wir den Kindern in den einklassig organisierten Schulen Weltwissen über begeisterte Menschen lebendig erfahrbar machen. Dazu kommen „Paten“ oder „Patinnen“ in die Schule, die über ihre Expertise, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten und/oder ihre Erfahrungen ein besonderes Stück Welt mitbringen, das die Kinder im unmittelbaren sozialen Umfeld vielleicht nicht finden. Zu unseren WeltwissenPaten gehört z. B. Andreas Klinkhardt vom gleichnamigen Verlagshaus, der mit den Kindern ein Buch schreiben und herausgeben wird. Oder Miklos Kiss, der verantwortliche Kopf des Projektes „Automatisches Fahren“ und des neuen „Etron“ bei Audi, der das Thema Automation mit den Kindern erkundet. Das Konzept zielt darauf ab, dass Kinder eine Erweiterung des Verständnisses von sich selbst, den anderen und der Welt gelingt – das, was Bildung schlussendlich ausmacht. 

Was können Sie über die Geschichte der Klein- und Kleinstschulen erzählen? 

Vor genau 250 Jahren hat Maria Theresia auch bei uns die Unterrichtspflicht eingeführt. Einige Gemeinden hatten schon vorher eine Schultradition, aber viele mussten infolge der Unterrichtspflicht selbst Schulen bauen, bzw. Platz für Unterricht schaffen – gerade in den entlegenen Gebieten war diese Notwendigkeit da, denn Schülerinnen- und Schülertransport gab es damals noch nicht. 
Während des Faschismus wurden dann durch halbstaatliche Organisationen weitere kleine Schulen errichtet, bzw. man hat Stuben in Bauernhöfen dafür angemietet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Schulen aufgelöst und die Kinder mussten zum Teil sehr lange Fußwege zurücklegen. Die verbliebenen, kleinen und entlegenen Schulen blieben vielfach das benachteiligte Schlusslicht, ohne didaktische Ausstattung und bis in die 1970er Jahre manchmal noch ohne Strom. Als solche waren sie auch für die Lehrpersonen wenig attraktiv und blieben bei der Stellenwahl für die Letzten in der Rangordnung, also für Lehrpersonen ohne reguläre Ausbildung oder Berufseinsteiger übrig.  

Mit dem zweiten Autonomiestatut bekam das Land die Kompetenzen für den Schulbau und den Straßenbau. Damit verbesserten sich die Rahmenbedingungen für die Kleinschulen markant – und sie sind inzwischen   auch diesbezüglich vielfach Vorzeigebeispiele geworden. 

Pantoffeln und Schlappen der Schulklasse an der Kleinstschule in St. Oswald/Kastelruth

Werden Kinder aus Klein- und Kleinstschulen genügend auf die Realität vorbereitet? 

Ja, ich würde sagen, dass das Lernen in Kleinschulen eine noch realere und lebensnähere Situation ist – gerade weil der starre Institutionscharakter wegfällt. Das Schulleben ist offener und lebendiger. Internationale Tests zeigen, dass sich diese Kinder auf dem gleichen, wenn nicht sogar auf einem höheren Lernniveau befinden, als Kinder in großen Schulen. Das einzige, womit sie zu Beginn der Mittelschule tatsächlich Schwierigkeiten haben (können), ist der Lärmpegel und die Masse an Kindern. 

Wie sehen Sie die Zukunft für die Klein- und Kleinstschulen? 

Gerade diese Schulen erfüllen den Bildungsauftrag der Schule in vielerlei Hinsicht so, dass das Lernen und die Entwicklung der Kinder in allen Bereichen bestmöglich gelingen kann. Das wird immer mehr anerkannt. Ich glaube, dass gerade bei uns in Südtirol und auch in der Schweiz, wo es auch sehr viele dieser Schulen gibt,   diese Schulen auf jeden Fall eine Zukunft haben. 

Redaktion INFO

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