Abendmittelschule in Meran
Neue Perspektiven im Leben
„Ich möchte, dass meine Schülerinnen und Schüler Deutsch lieben lernen“, sagt Andrea Santin. Die Lehrerin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache bringt schon seit Jahren Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlingen in Sprachkursen Deutsch bei, damit sie das Sprachniveau A2 erreichen. Dieses ist Voraussetzung, um die Abendmittelschule besuchen zu können. Andrea Santin koordiniert außerdem die Abendmittelschule in Meran. INFO wollte von Andrea Santin mehr über das Projekt wissen.
INFO: Warum wurden die Abendmittelschulen in Bozen und Meran gegründet?
Andrea Santin: Vor etlichen Jahren gab es bereits deutschsprachige Abendmittelschulen in Südtirol. Seit der Flüchtlingswelle 2015/16 kommen immer mehr Menschen ins Land, die keinen Schulabschluss haben. So wurde für das Schuljahr 2018/19 die Abendmittelschule wieder ins Leben gerufen. Und das war gut so: Durch das Mittelschuldiplom haben unsere Absolventinnen und Absolventen mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt, können sich leichter integrieren, werden besser akzeptiert und finden eher eine Wohnung. Außerdem steigert der erfolgreiche Abschluss das Selbstwertgefühl, und für manche Flüchtlinge ist der Schulbesuch auch deshalb positiv, weil sie dadurch den Aufenthaltsstatus schneller bekommen. Und man darf nicht vergessen: Die Teilnehmenden verbessern ihre Kenntnisse in drei Sprachen, in Deutsch, Italienisch und Englisch. Es ist wie ein Rad, das sich für sie zu drehen beginnt.
Was sind die Voraussetzungen, damit Migrantinnen und Migranten überhaupt die Abendmittelschule besuchen können?
Die Teilnehmenden müssen das Sprachniveau A2 in Deutsch haben, in Englisch und Italienisch können sie bei null starten. Ich bringe schon seit Jahren Migrantinnen und Migranten, etwa bei Alpha Beta, in „Mama lernt Deutsch“-Kursen oder in Sommersprachkursen, die Sprache bei. Aus diesen Kursen stammen auch viele der Erwachsenen an der Abendmittelschule.
Wie ist der Unterricht aufgebaut und welche Erfahrungen haben Sie bisher gesammelt?
Der Unterricht findet von Anfang September bis Mitte Juni jeweils von Montag bis Donnerstag zwischen 18:00 und 20:30 Uhr statt. Es gibt also 12 Unterrichtseinheiten pro Woche. Unterrichtet werden acht Fächer: Ich unterrichte Deutsch, Geschichte, Geografie und Lebens- und Bürgerkunde, dazu kommen Italienisch, Englisch, Mathematik und Naturkunde. Im Klassenrat sind wir vier Lehrpersonen. Inhaltlich orientieren wir uns an den Rahmenrichtlinien des Landes der regulären Mittelschule, mit dem Unterschied, dass der Stoff von drei Mittelschuljahren in einem Jahr erarbeitet wird.
Und wenn einige die Sprachen schon beherrschen?
Es gibt immer wieder Teilnehmende, die bereits Italienisch und Englisch können. Daher bieten wir einen individualisierten Unterricht an. Das klingt kompliziert, aber es funktioniert und fruchtet. Die Schülerinnen und Schüler helfen sich dann auch gegenseitig. In Deutsch ist die Gruppe eher homogen, weil sie eben alle weitgehend das Sprachniveau A2 besitzen.
Woher kommen die Schülerinnen und Schüler und wie harmonieren sie in der Gruppe?
Sie kommen aus der ganzen Welt. In den letzten Jahren sind vermehrt Ukrainerinnen und Ukrainer nach Südtirol gekommen. In diesem Schuljahr sind zwei ukrainische Frauen und ein junger Mann mit 20 Jahren im Unterricht. Wir hatten auch schon Schülerinnen und Schüler aus Marokko, Syrien, Kurdistan, Indien, Pakistan, Afghanistan, Nigeria, Elfenbeinküste, Mali, Gambia und Senegal, dem Kosovo, Albanien, Mazedonien, Bulgarien, dem Iran und Irak, aus Brasilien, Honduras, Venezuela und Jordanien. Ich muss zugeben: Im September starten immer mehr Interessierte mit der Abendschule als dann bis zur Abschlussprüfung tatsächlich bleiben. Bis kurz vor Weihnachten kristallisiert sich meistens heraus, wer dann wirklich bis zum Ende bleibt. Ab diesem Zeitpunkt ist die Gruppe dann schon wie eine Familie zusammengewachsen. Für manche ist es das auch, weil sie sonst keine Familien hier in Südtirol haben. Die Atmosphäre ist wirklich gut.
Also haben Sie durchweg positive Erfahrungen gesammelt?
Richtig. Alle, die das Schuljahr abgeschlossen haben, können bestätigen, dass es eines der wertvollsten Jahre ihres bisherigen Lebens war. Viele starten das Schuljahr mit einem „schweren Rucksack“, mit Traumata, mit Verletzungen und Trauer, die sie in sich tragen – und das alles bringen sie mit in den Unterricht hinein. Ihre Erfahrungen werden oft im Unterricht thematisiert, egal in welcher Sprache. Es gibt Momente, in denen ich oft denke: „Wow, das ist ja jetzt eine wertvolle Therapie für diesen Schüler.“
Gibt es Geschichten und Biografien unter den Schülerinnen und Schülern, die Sie besonders beeindruckt haben?
Es sind auch ältere Frauen und Mütter dabei, besonders aus asiatischen Ländern, die keine oder nur ein paar Jahre Schulbildung genossen haben und die jetzt ein Diplom in den Händen halten. Das ist super, wenn Frauen und Mütter im „fortgeschrittenen“ Alter so etwas schaffen können. Derzeit haben wir einen Abendmittelschüler von der Elfenbeinküste, der weder lesen noch schreiben konnte, als er vor einigen Jahren nach Meran gekommen ist. Er hat Alphabetisierungskurse bei mir besucht und einen guten Job in der Stadtgärtnerei gefunden. Jetzt macht er die Abendmittelschule, um sich noch weiterzubilden. Das ist schon eine tolle Leistung. Die Caritas unterstützt unsere Absolventinnen und Absolventen, damit sie eine Arbeit bekommen, in der sie auch gerecht bezahlt werden. Wir profitieren also von einem kleinen Netzwerk.
Können Sie noch ein Beispiel nennen?
Eine Schülerin, die 2020/21 die Abendmittelschule Meran besucht hat, ist als politischer Flüchtling aus Kurdistan gekommen. Als alleinerziehende Mutter ist sie ohne ihren Sohn geflüchtet, sie musste ihn in der Türkei zurücklassen. Diese junge Frau konnte kein Wort Deutsch oder Italienisch und hat nur ein bisschen Englisch beherrscht. Seit damals hat sie sich wirklich erstaunlich weiterentwickelt. Sie arbeitet heute in einem Hotel in Algund als Chef de Rang, hat einen unbefristeten Vertrag, wird gut bezahlt, hat eine schöne Wohnung…und das Wichtigste: sie holt jetzt ihren Sohn nach Südtirol. Ihr Leben hat sich um 180 Grad gewendet. Die Abendmittelschule hier in Meran war für sie gewissermaßen ein Sprungbrett für diese Entwicklung.
Das klingt sehr gut. Trotz Ihrer positiven Erfahrungen: Was gibt es noch zu verbessern?
Lehrpersonen müssen gewisse Voraussetzungen mitbringen, um in diesem Schulmodell zu unterrichten. Erstens haben wir es mit erwachsenen Menschen im Unterricht zu tun, die teilweise viel mehr Lebenserfahrung mitbringen als wir Lehrpersonen. Erwachsene kann man nicht wie Kinder unterrichten, es ist mehr ein offenes, stressfreies Lernen, ein kollegiales Unterrichten. Und das kann nicht jede Lehrperson. In diesem Schuljahr funktioniert der Unterricht sehr gut, weil ich mit wirklich kompetenten Kolleginnen im Team sein darf. Es gab aber auch Jahre, in denen es große Konflikte zwischen den Lehrpersonen und den Abendschülerinnen und -schülern gab. In solchen Situationen gilt es herauszufinden, was dahintersteckt und weshalb sich die Erwachsenen nicht auf die Schule konzentrieren können. So stellte sich beispielsweise heraus, dass Familienangehörige in Afghanistan oder im Iran verfolgt worden waren, einige Mitglieder der Familie wurden eingesperrt, gefoltert oder sogar ermordet. Klar, dass diese Personen traumatisiert und mit den Gedanken woanders waren. Als Lehrperson muss man da sehr feinfühlig sein. Und man sollte auch kulturelle No-Gos oder Besonderheiten vor Augen haben, wenn man mit so einer multikulturellen Gruppe arbeitet. Es geht da manchmal um Kleinigkeiten, die für unsere Kultur nicht relevant, aber für deren Kultur sehr wichtig sind.
Wie viele Personen werden in diesem Schuljahr zur Abschlussprüfung antreten?
Heuer besteht unsere Gruppe aus drei Männern von Kurdistan, der Elfenbeinküste und Ukraine und sieben Frauen aus der Ukraine, Afghanistan, Albanien, Nord-Mazedonien und Bulgarien sowie einem einheimischen Privatisten. Es ist die größte Klasse, seitdem die Abendmittelschule wieder gestartet ist. Der jüngste Teilnehmer ist der Privatist mit 17 Jahren, die älteste Teilnehmerin ist fast 50.
Bis wann laufen die Einschreibungsfristen?
Ab Mitte Mai bis Ende August kann man sich für die Abendmittelschule 2024/25 anmelden. Für die Sommersprachkurse steht ab sofort die Telefonnummer 320 4463489 für eine Anmeldung zur Verfügung. Diese Kurse sollen helfen, um das erforderliche A2-Sprachniveau in Deutsch zu erreichen.
Wir starten dann eine Woche nach dem regulären Schulbeginn im September 2024 mit der Abendschule.
Anmeldungen werden bis Ende August im Sekretariat der Mittelschule „Carl Wolf“ in Meran entgegengenommen (ssp.meranstadt@schule.suedtirol.it). Voraussetzung für den Besuch der Abendmittelschule ist die Kenntnis der deutschen Sprache auf A2-Niveau. Des Weiteren muss für die Zulassung zur Abschlussprüfung eine Anwesenheit von mindestens 75 Prozent der Unterrichtszeit vorgewiesen werden. Der Besuch der Abendmittelschule sowie die Teilnahme an der Abschlussprüfung sind kostenlos.