Interview zur Neuregelung der Rechtschreibung

„Niemand braucht sich Sorgen zu machen“

Donnerstag, 5.9.2024

Gertrud Verdorfer ist Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung, der sich zuletzt auf Neuregelungen in einigen Bereichen der Orthografie verständigt hat. Die seit Kurzem pensionierte ehemalige Direktorin der Pädagogischen Abteilung über die konkreten Änderungen und warum eine richtige Rechtschreibung in Zeiten von KI überhaupt noch wichtig ist.

INFO: Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat sich auf Neuregelungen verständigt. Was sind die wichtigsten Rechtschreibregeln, die jetzt neu eingeführt werden?

Gertrud Verdorfer: Aufgrund der medialen Aufmerksamkeit, der Vorschläge des Rechtschreibrates und der anschließenden Beschlussfassung der staatlichen Stellen oder auch des Erscheinens einer neuen Ausgabe des Dudens, mag es so scheinen, als stünden viele Neuregelungen ins Haus. Dem ist absolut nicht so und niemand braucht sich Sorgen zu machen. Die Neuregelungen, die vom Rat für deutsche Rechtschreibung vorgeschlagen wurden, betreffen kleine Teilbereiche und sind vor allem Anpassungen an einen veränderten Sprachgebrauch.

Die wesentlichen Neuerungen betreffen den Bereich Fremdwörter und ihre Schreibung und den Bereich Zeichensetzung, wo im Bereich der Kommasetzung eine neue Regel formuliert wurde, die Klarheit und Eindeutigkeit vor allem für Lehrende und Lernende bringen soll.

Können Sie einige Fremdwörter nennen, die ins Amtliche Wörterverzeichnis aufgenommen wurden?

Es handelt sich um Fremdwörter vor allem aus dem Englischen, die auch im Deutschen häufig gebraucht werden: zum Beispiel timen, mailen, whatsappen, Fake News/Fakenews/Fake-News.

Gleichzeitig stellt sich bei fremdsprachigen Wörtern auch die Frage nach der Schreibung im Deutschen bzw. den zulässigen Varianten: z.B. faken, fakte, gefakt/gefaked, aber nur gefakte Nachrichten. Auch in der Groß-Kleinschreibung von fremdsprachlichen Ausdrücken werden mögliche Varianten angegeben: Last–minute-Angebot oder Last-Minute-Angebot.

Gestrichen aus dem Amtlichen Wörterverzeichnis wurden „eingedeutschte“ Varianten von Fremdwörtern, die sich in der Sprachverwendung erwiesenermaßen nicht durchgesetzt haben: z.B. Exposee, Dränage, Frigidär, Jogurt, Katode, Panter, Polonäse, Spagetti oder Tunfisch.

Was hat sich im Bereich der Zeichensetzung verändert?

Das Kapitel Zeichensetzung im Amtlichen Regelwerk wurde auf der Basis sprachwissenschaftlicher und didaktischer Erkenntnisse vollständig neu systematisiert, vereinfacht und gestrafft. Die Anzahl der Regeln wurde dabei um fast zwei Drittel reduziert: 39 Paragraphen im letzten Regelwerk von 2006, 14 Paragraphen im neuen Regelwerk. Im Bereich der Kommasetzung wurde eine Regeländerung vorgenommen: Infinitivgruppen (erweiterter Infinitiv) werden verbindlich mit Komma abgetrennt. Ich nenne zwei Beispiele: „Ich hoffe, du kannst kommen. Dich zu sehen, freut mich.“ Bisher war das Komma in diesen Fällen fakultativ.

Warum werden in regelmäßigen Abständen solche Neuerungen vorgenommen?

Das Statut schreibt dem Rat für deutsche Rechtschreibung die Aufgabe zu, die Schreibung im deutschen Sprachraum zu beobachten, im unerlässlichen Maß weiterzuentwickeln und insgesamt die Einheitlichkeit der Schreibung im deutschen Sprachraum zu wahren. Da sich Sprache laufend verändert und auch verändern muss, um der Welt, in der wir leben, zu entsprechen, ändert sich auch die Schreibung. Die starke Verwendung von fremdsprachigen Ausdrücken im Deutschen und der sprachliche Umgang damit sind ein aussagekräftiges Beispiel dafür. Die Arbeit des Rates fußt auf der wissenschaftlichen Analyse umfangreicher Textkorpora (z.B. Tages- und Wochenzeitungen aus allen deutschsprachigen Ländern), Erkenntnisse aus dem aktuellen Schreibgebrauch führen dann zu vorsichtigen Anpassungen, wie sie oben beschrieben wurden.

Deshalb ist klar, dass Rechtschreibung für die Schule eine Herausforderung darstellt und das gilt auch für Südtirol – und es ist eine Herausforderung, der man sich stellen muss.

Sind solche Neuerungen für Schülerinnen und Schüler, die seit Jahren die noch aktuellen Rechtschreibregeln gelernt haben, schwierig zu verinnerlichen?

Wie schon gezeigt, betreffen die Regeln nur kleine Bereiche bzw. definieren auch mögliche Varianten, so dass für die Schule absolut keine Schwierigkeiten und Irritationen zu befürchten sind. Es ist im Gegenteil so, dass die Frage nach der leichten Erlernbarkeit in der Schule bei den Diskussionen im Rat eine große Rolle spielt. So bin ich auch der Auffassung, dass die Neustrukturierung und Straffung des Kapitels Zeichensetzung und auch die eindeutige Regelung beim erweiterten Infinitiv für die Schule ein klarer Vorteil sind.

Studien in Deutschland zeigen, dass es um die Kenntnisse in Orthografie etwa bei Zehnjährigen nicht gut bestellt ist. Wie schaut es in Südtirol aus?

Alle Schreibenden wissen sehr genau, dass die deutsche Orthografie durchaus eine sehr komplexe Herausforderung ist: Groß-Kleinschreibung, Getrennt-Zusammenschreibung, Kommasetzung – es gibt viele Regeln und sie sind nicht immer leicht zu vermitteln, weil sie hohe Abstraktion und grammatisches Wissen voraussetzen. Deshalb ist klar, dass Rechtschreibung für die Schule eine Herausforderung darstellt und das gilt auch für Südtirol – und es ist eine Herausforderung, der man sich stellen muss.

Was ist also zu tun?

Für mich und für die fachdidaktische Arbeit, die wir in den letzten Jahren geleistet haben, gilt als Maxime: nicht zu viel zu früh! Es würde jetzt zu weit führen, im Detail darauf einzugehen, da bietet der „Rote Faden für den Deutschunterricht“ eine gute Unterstützung für Lehrpersonen. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Rechtschreibung nicht nur ein Thema der Unterstufe ist, sondern immer wieder thematisiert werden kann und muss, weil manche Regeln, die höhere Abstraktion erfordern, in höheren Klassen viel leichter verstanden werden können. Andererseits gilt es Grundregeln zu sichern, fokussiert zu trainieren und regelmäßig zu wiederholen.

In sozialen Medien scheint die richtige Rechtschreibung keine wichtige Rolle zu spielen. Wie beeinflusst das die allgemeinen Kenntnisse um die richtige Schreibweise und kann die Schule da etwas entgegenwirken?

Vorauszuschicken ist, dass die jeweiligen Vorschläge des Rechtschreibrates von den zuständigen staatlichen Stellen in den betroffenen Ländern beschlossen werden und damit dann für Schule und Verwaltung verbindlich sind. Für diese Ebenen gibt es Weisungsbefugnis, für andere Bereiche, in denen geschrieben wird, gibt es die absolut nicht. In sozialen Medien findet eine informelle Sprachverwendung statt, die nahe dem Mündlichen ist und in der gerade bei uns auch der Dialekt eine große Rolle spielt. Für mich ist diese Form der Schreibung ungewohnt und anstrengend, aber ganz offensichtlich funktioniert Kommunikation auch mit wenig Regeln, vor allem, wenn man die entsprechenden „Codes“ und Abkürzungen kennt.

Rechtschreibung ist wichtig, aber Sprachkompetenz bedeutet mehr als Rechtschreibkompetenz!

Aber schaden sie der Kenntnis der richtigen Orthografie?

Ich glaube nicht, dass dadurch die allgemeinen Kenntnisse zurückgehen, man muss ja sagen, dass heute so viel geschrieben wird, wie selten zuvor. Allerdings ist es wichtig, das Thema Rechtschreibung, ihre Rolle und Bedeutung in verschiedenen Situationen in der Schule zu besprechen und sich nicht nur auf die Vermittlung der Regeln zu beschränken.

Ich persönlich würde mir wünschen, dass die Rechtschreibung, ihre Geschichte, ihre Bedeutung für die leichte Lesebarkeit und die überregionale Kommunikation, aber auch die etwas überdimensionierte gesellschaftliche Bedeutung, die ihr zuerkannt wird, in der Schule viel stärker thematisiert werden. Rechtschreibleistung wird oft fälschlicherweise mit Intelligenz gleichgesetzt; es fällt auf und wird stark sanktioniert, wenn jemand z.B. „Schulhe“ schreibt; andererseits werden gerade in Südtirol auch im öffentlichen Gebrauch z.B. die Begriffe „vorrangig“ und „vordergründig“ fast durchwegs falsch verwendet, obwohl sie so ziemlich das Gegenteil bedeuten. Rechtschreibung ist wichtig, aber Sprachkompetenz bedeutet mehr als Rechtschreibkompetenz!

In unserer digitalisierten Welt kann die KI Fehler korrigieren. Warum ist Rechtschreibung überhaupt wichtig?

Kompetente Rechtschreibung bedeutet letztlich Einsicht in die Struktur und in den Aufbau einer Sprache – und das halte ich für sehr wichtig. Gerade weil es zunehmend Hilfsmittel geben wird, die uns in der Anwendung unterstützen, ist es eine wichtige Aufgabe der Schule, ein vertieftes Verständnis von Sprache, ihren Leistungen, Aufgaben und Verwendungsweisen in verschiedenen Kontexten zu vermitteln. Nur wenn das gelingt, ist eine bewusste und kritische Nutzung von KI-Tools möglich.

INFO Redaktion

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