Stress im Klassenzimmer: Warum Lehrkräfte oft an ihre Grenzen stoßen und was hilft
Im INFO-Interview sprechen Gudrun Schmid und Dorothea Staffler, Beraterinnen im Bereich Gesundheitsförderung an der Pädagogischen Abteilung, darüber, warum der Lehrberuf belastender als andere Berufe ist, und welche Präventionsmaßnahmen zum Schutz und zur Förderung der Gesundheit ergriffen werden können.
Lehrerinnen und Lehrer tragen eine große Verantwortung: Sie sollen Wissen vermitteln, auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen und gleichzeitig die Erwartungen von Eltern, der Gesellschaft und der Politik erfüllen. Doch die Belastungen gehen oft weit darüber hinaus.
INFO: Warum sind Lehrpersonen mehr als andere Berufe psychischen Belastungen bis hin zum Burnout ausgesetzt?
Gudrun Schmid (GS): Für Südtirol gibt es wenig Daten, aber verschiedene Studien aus Deutschland zeigen, dass 10 bis 30 Prozent der Lehrpersonen unter Erschöpfungssymptomen leiden. Das sind schon beunruhigende Daten. Mehrere Faktoren sind dafür verantwortlich. Das Aufgabenfeld der Lehrerinnen und Lehrer ist sehr vielfältig, die Anforderungen sind so hoch, dass niemand allen gerecht werden kann, das kann stressen. Die Kernaufgabe der Lehrpersonen liegt in der Gestaltung des Unterrichts, sie müssen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen und alle mitnehmen. Die Heterogenität hat jedoch in den vergangenen Jahren stark zugenommen, wir sprechen hier von Kindern und Jugendlichen mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und sprachlichen, soziokulturellen und familiären Hintergründen. Zudem sind Lehrerinnen und Lehrer oft mit herausfordernden Phänomenen und Themen wie Verhaltensauffälligkeiten, sozialen Krisen, Mobbing, Gewalt, Krankheit oder Sucht konfrontiert.
Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass der Lehrberuf ein sehr befriedigender Beruf sein kann, weil es sinnvoll und wichtig ist, Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu begleiten.
So anspruchs- und verantwortungsvoll der Lehrberuf auch ist, in der Öffentlichkeit wird er nicht immer positiv wahrgenommen.
GS: Das stimmt und das wird von vielen Lehrkräften als belastend empfunden. Oft wird er als Halbtagsjob abgetan, dabei wird die Vor- und Nachbereitungsarbeit nicht gesehen, auch nicht die zusätzlichen Aufgaben, die Lehrpersonen übernehmen. Die mangelnde Wertschätzung spiegelt sich in der Bezahlung wider, die – im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarländern – eher gering ist.
Was sind die konkreten Belastungen im Schulalltag?
Doris Staffler (DS): Ich möchte einen ganz typischen Schultag skizzieren: Eine Lehrerin kommt auf den Schulhof, sie wird sogleich von zwei Schülerinnen gefragt, wie der Test ausgefallen ist. Ein Vater tritt näher und fragt nach, wann der Maiausflug stattfinden wird. Die Lehrerin eilt ins Lehrerzimmer, bespricht sich schnell mit einer Kollegin und schon läutet die Glocke und sie eilt in die Klasse. Dort warten 20 bis 25 Kinder, mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, für die zu Beginn des Unterrichts vielleicht ganz andere Dinge im Vordergrund stehen und denen sich die Lehrerin annehmen soll.
Der Unterricht beginnt, es kommt immer wieder zu Störungen, zum Beispiel durch Verhaltensauffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern. Das geht so weiter bis zu Mittag.
Gibt es keinen Rückzugsort, an dem Lehrpersonen mal durchschnaufen können?
DS: Die Lehrerin hat in der Regel keinen ruhigen, persönlichen Arbeitsplatz in der Schule, an den sie sich kurz zurückziehen könnte. Lehrpersonen treffen an einem Vormittag in kurzer Zeit sehr viele Entscheidungen, sie sind als ganze Persönlichkeiten gefordert und sollten allen gerecht werden. Die psychophysische Beanspruchung nimmt daher im Laufe des Vormittags stark zu, das haben auch Studien gezeigt.
Wenn im Kollegium und in der Schule ein positives Klima herrscht, wirkt sich das natürlich positiv auf die Gesundheit aus – und eine gesunde Lehrperson wirkt sich wiederum positiv auf die Gesundheit und das Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler aus
Wie wirkt sich das Arbeitsumfeld auf die Gesundheit aus?
DS: Wenn im Kollegium und in der Schule ein positives Klima herrscht, wirkt sich das natürlich positiv auf die Gesundheit aus – und eine gesunde Lehrperson wirkt sich wiederum positiv auf die Gesundheit und das Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler aus. Hier geht es um den Lern- und Lebensraum Schule. Wir haben mit einem Programm zur Lehrerinnen- und Lehrergesundheit gearbeitet, dem sogenannten IEGL (Inventar zur Erfassung von Gesundheitsressourcen im Lehrerberuf), das sowohl die persönlichen Belastungen der Lehrpersonen, ihren Umgang damit als auch die Arbeitsbedingungen in der Schule unter die Lupe nimmt.
Dieses Programm greift auf die Ergebnisse der sogenannten Potsdamer Lehrerinnen- und Lehrerstudie zurück. Was hat diese Studie ergeben?
DS: Die Studie hat gezeigt, dass Lehrpersonen erhöhten Risiken für die psychische Gesundheit ausgesetzt sind, auch im Vergleich zu anderen Berufsgruppen, zum Beispiel der Polizei, der Feuerwehr oder sogar im Vergleich zum Pflegepersonal. Rund 40 Prozent der Lehrpersonen zeigen einen überwiegend gesunden Umgang mit den Herausforderungen des Lehrberufs, ca. 30 Prozent ein sehr hohes Engagement mit Einschränkungen in ihrem Wohlbefinden und weitere ca. 30 Prozent sind resigniert, tendieren in Richtung Burnout. Sie haben ein verringertes Engagement mit deutlichen Einschränkungen in der Belastbarkeit und im Wohlbefinden.
Welche präventiven Maßnahmen können Lehrerinnen und Lehrer ergreifen?
GS: Die Förderung einer ganzheitlichen Gesundheitskultur mit einem klaren Konzept ist Aufgabe aller in der Schule, also der Schulleitung, der Lehrpersonen, des Verwaltungspersonals und natürlich der Schülerinnen und Schüler.
Gesundheitsförderung kann auf mindestens drei Ebenen angegangen werden: auf der Systemebene, auf der individuellen und auf der gesellschaftspolitischen Ebene. Eine Schulleitung, die die Gesundheit der Lehrpersonen im Blick hat, eine Gruppe, die das Thema hütet, ein positives und wertschätzendes Schulklima, eine effiziente Arbeitsorganisation und gute Arbeitsräume wirken sich positiv auf die Gesundheit aus.
Der Grundstein für die psychosoziale Gesundheit wird im Kindes- und Jugendalter gelegt. Umso wichtiger sind gesunde Erwachsene in der Schule, an denen sich Kinder und Jugendliche orientieren können.
Und die beiden weiteren Ebenen?
GS: Auch auf der persönlichen Ebene können Lehrpersonen viel tun, indem sie zum Beispiel durch Fortbildungen ihre Eigenverantwortung und Fachkompetenz sowie ihre Zuversicht und Frustrationstoleranz stärken.
Grundlegend scheint mir die Wertschätzung der Arbeit zu sein, sowohl innerhalb der Schule als auch von Seiten der Gesellschaft. In der Schule können zum Beispiel Erfolge regelmäßig in Besprechungen thematisiert werden. Fehler passieren jeden Tag, wie überall, aber es wird jeden Tag sehr viel mehr richtig gemacht. Wenn sich ein Wir-Gefühl entwickelt, wenn sich Lehrinnen und Lehrer als Teil eines Ganzen erleben und sich gegenseitig vertrauen, geht die Arbeit leicht von der Hand. Wenn es dann noch die Möglichkeiten für eine regelmäßige Supervision und demokratische Beteiligung in der Schule gibt, wirkt sich dies positiv aus.
Welche Gesundheitsprävention für Lehrpersonen bietet die Bildungsdirektion an?
GS: Die Bildungsdirektion bietet Einzel- und Gruppensupervisionen sowie Fortbildungen wie etwa zum Thema Resilienz an. In der Berufseingangsphase wird die Gesundheit der Lehrpersonen thematisiert, was sehr positiv aufgenommen wird. Dort lernen die Berufseinsteigerinnen und -einsteiger auch die kollegiale Beratung kennen. Unsere Lebenskompetenzprogramme, in denen es um die psychosoziale Gesundheit der Schülerinnen und Schüler geht, bieten indirekt Gelegenheit, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Wird dem Thema Lehrerinnen- und Lehrergesundheit in Südtirol genügend Aufmerksamkeit geschenkt?
DS: Die Gesundheit der Lehrpersonen sollte stärker thematisiert werden. Es gibt vor allem von Seiten der Lehrerinnen- und Lehrerverbände meist punktuelle Angebote in der Fortbildung. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Gesundheit der Schulleitung und der Lehrpersonen einen großen Einfluss auf das Schulklima und die Schülerinnen und Schüler hat, sollten mehrteilige, prozessorientierte Angebote ausgebaut werden, die die Verhältnis- und die Verhaltensebene berücksichtigen. Dies ist auch gesellschaftspolitisch von Bedeutung, da Gesundheit und Bildung sich gegenseitig bedingen. Der Grundstein für die psychosoziale Gesundheit wird im Kindes- und Jugendalter gelegt. Umso wichtiger sind gesunde Erwachsene in der Schule, an denen sich Kinder und Jugendliche orientieren können.