Interview zum Thema Hochsensibilität
„Weder gut noch schlecht“
Rund jede vierte Person nimmt Reize außergewöhnlich stark wahr und gilt als hochsensibel. Im INFO-Interview erläutert die psychologische Beraterin und Autorin Brigitte Küster, was sich hinter dem Begriff Hochsensibilität verbirgt und welche Auswirkungen diese Veranlagung auf das Leben und in der Schulwelt hat.
Vor rund 15 Jahren hatte Brigitte Küster einen Aha-Moment. Eine Freundin machte sie auf ein Buch aufmerksam, das diese zufällig entdeckt hatte. Darin ging es um Hochsensibilität, ein Phänomen, das bis dahin wenig erforscht war. Hochsensible Menschen nehmen Reize anders und intensiver als der Durchschnitt der Bevölkerung wahr. Plötzlich hatte Küster einen Begriff für etwas, das ihr Leben bisher wesentlich geprägt hatte: „Ich habe plötzlich verstanden, warum ich manche Sachen so schwernehme, während andere zum Alltagsgeschehen übergehen, und warum mir Dinge so lange nachhängen“, sagt die Institutsleiterin, Erwachsenenbildnerin und Autorin. Die Beschäftigung mit dem Thema half ihr, das eigene Privatleben zu ordnen, und veränderte ihr Berufsleben. „Wenn mir dieses Wissen schon wesentlich geholfen hatte, wollte ich es auch an andere weitergeben“, so Küster, die sich auf die Thematik spezialisierte, Bücher schrieb und begann, länderübergreifend Aufklärungsarbeit zu leisten. Die psychologische Beraterin, die in der Schweiz lebt, ist heute eine der gefragtesten Expertinnen zum Thema Hochsensibilität und war auch mehrmals als Referentin in Südtirol, immer auf Einladung der Pädagogischen Abteilung der Deutschen Bildungsdirektion. So auch dieses Jahr: Am 20. und 21. Februar war sie zu Gast auf Schloss Rechtenthal in Tramin, um Lehrerinnen und Lehrer fortzubilden. INFO hat die Gelegenheit genutzt und die Psychologin zum Interview gebeten.
INFO: Frau Küster, ab wann ist man hochsensibel?
Brigitte Küster: Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass es sich um eine angeborene Veranlagung handelt. Hochsensibilität zeigt sich für gewöhnlich bereits im Säuglings- und Kleinkindalter. Das hat bereits der Kinderarzt und Psychologe Thomas Boyce herausgefunden, lange bevor es überhaupt den Begriff Hochsensibilität gab. 20 Prozent der von ihm beobachteten Säuglinge und Kleinkinder reagierten stark auf Reize. Er hat Luftballone platzen lassen, Zitronensaft auf die Zunge gegeben oder ihnen Wattebäuschchen, die in Alkohol getränkt wurden, unter die Nase gehalten.
Was ist passiert?
Wie gesagt reagierte jedes fünfte Kind stark auf diese Reize, sie haben geweint, geschrien oder gestrampelt. Bei den anderen war das nicht der Fall. Deshalb kam er zum Schluss, dass es einen 20-prozentigen Anteil an der Gesamtgesellschaft gibt, der stärker auf Reize reagiert. Der Begriff Hochsensibilität kam erst in den 1990er-Jahren auf. Die US-amerikanische Forscherin Elaine Aron hat eine umfangreiche Forschung angetrieben und diese einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie hat den Begriff high sensitive person geprägt und den Stein ins Rollen gebracht.
Sind 20 Prozent der Menschen tatsächlich hochsensibel?
Ja. Elaine Aron und auch andere Forscherinnen und Forscher haben nachgewiesen, dass mindestens jeder Fünfte oder jede Fünfte eine solche Veranlagung hat. Es gibt sogar eine seriöse Studie, die von 30 Prozent spricht. Es ist davon auszugehen, dass mindestens jede oder jeder Vierte davon betroffen ist.
„Wenn ich mich so sensibel zeige, wie ich tatsächlich bin, dann kann das gefährlich sein, dann mögen mich Mama und Papa nicht so, dann habe ich auch keine Freunde.“
Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Nein, Männer und Frauen sind laut Forschung gleichermaßen betroffen. Nur wird Frauen eher zugestanden, dass sie sensibel sind – das betrifft vor allem den ländlichen Raum, der noch konservativer geprägt ist. In den letzten Jahren kommen aber immer mehr Männer zu mir in die Praxis, häufig sind sie mittleren Alters.
Was sind typische Symptome von Hochsensiblen, die sie von Normalsensiblen unterscheidet?
Hochsensible Menschen nehmen Reize nicht nur stärker wahr, sondern verarbeiten sie auch auf besondere Weise. Unser Leben, unser Alltag hier in Europa ist von sehr vielen Reizen geprägt, zum Beispiel vom Verkehrslärm oder überhaupt von der Lärmüberflutung. Für Kinder können das auch große Klassenzusammensetzungen oder außerschulische Aktivitäten in Vereinen sein. Das alles ist für Hochsensible nicht günstig, der Organismus wird von zu vielen Reizen überflutet. Hochsensible Kinder reagieren darauf häufig negativ: Sie verlieren die Konzentration, haben Blackouts vor Prüfungen oder gar Zornausbrüche.
Was läuft auf der psychischen Ebene ab?
Wenn wir von der vererbten Veranlagung sprechen, dann geht es um eine erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit. Aber wie sich diese letztendlich ausprägt, das ist dann dem Leben geschuldet, den Erfahrungen, die auch in der Kindheit gemacht werden. Wenn ein Kind erlebt, dass Sensibilität keinen Wert in der Familie hat oder negativ interpretiert wird, dann kann Folgendes im Organismus passieren: „Wenn ich mich so sensibel zeige, wie ich tatsächlich bin, dann kann das gefährlich sein, dann mögen mich Mama und Papa nicht so, dann habe ich auch keine Freunde.“ Es kann sein, dass so etwas wie eine soziale Scheu entsteht, eine Brüchigkeit im Selbstwertgefühl und im Selbstvertrauen. Das ist das Resultat einer Veranlagung, die nicht erkannt und auf die nicht im positiven Sinne eingegangen worden ist. Aber für diese soziale Scheu ist eben nicht die Veranlagung selbst verantwortlich.
Wenn Hochsensible das tun, was ihnen am Herzen liegt, und was ihrer Veranlagung entspricht, dann sind sie auch zu 150 Prozent leistungsfähig. Man muss aber die Veranlagung ernst nehmen und die eigenen Grenzen ausloten, und sich dann innerhalb dieser Grenzen bewegen.
Das klingt nicht unbedingt positiv.
Ich beurteile die Veranlagung neutral, sie ist für mich weder gut noch schlecht. Aber sie ist dominant im Organismus einer hochsensiblen Person, weil sie alle Lebensbereiche umfasst und sie ist prägend vor allem in Beziehungen, im sozialen Bereich. Wir, das betrifft mich ja auch, laufen mit hochsensiblen Antennen durch die Gegend, nehmen stark wahr, wie andere auf uns reagieren – jede Reaktion, jedes Wimperzucken wird interpretiert, das passiert unbewusst und ist automatisiert. Wenn ich an mein eigenes Leben denke, dann erinnere ich mich noch gut an meine ersten Lebensjahre und da hat sich in mir ein Gefühl entwickelt, das ich umschreiben würde mit: „Ich bin nicht in Ordnung.“
Die Welt hat sich in den letzten 20 bis 30 Jahren stark verändert, es läuft alles schneller und hektischer ab. Das ist nicht gut für Hochsensible, weil sie stark darauf reagieren und das manchmal mit negativen Folgen: Sie werden krank, fallen bei der Arbeit aus oder ziehen sich sozial zurück.
Kann diese Wahrnehmungsfähigkeit nicht auch positiv empfunden und genutzt werden?
Ja, Hochsensibilität ist durchaus auch eine Gabe: Aber das gelingt nur, wenn sich Hochsensible ihrer Veranlagung bewusst sind, mit ihrer Geschichte im Reinen sind, wenn sie einen stimmigen Rhythmus zwischen An- und Entspannung im Leben gefunden haben, also wenn sie zu einer guten Regeneration kommen. Wenn Hochsensible das tun, was ihnen am Herzen liegt, und was ihrer Veranlagung entspricht, dann sind sie auch zu 150 Prozent leistungsfähig. Man muss aber die Veranlagung ernst nehmen und die eigenen Grenzen ausloten, und sich dann innerhalb dieser Grenzen bewegen.
Also gibt es auch Vorteile gegenüber Normalsensiblen?
Ja, es kann ein Vorteil sein, hochsensibel zu sein. Aber es ist nicht so einfach. Sofern Hochsensible ein gesundes und gutes Umfeld in ihrer Kindheit erlebt haben, das ihre Veranlagung schätzt, und sie einen guten Berufsstart hatten, dann können sie die Vorteile ihrer Veranlagung ausleben. Man muss aber sagen: Die meisten sind traumatisiert und das bestimmt ihr Verhalten. Das Bild in der Öffentlichkeit ist auch nicht förderlich: „Oh, Hochsensible, da muss man aufpassen, das sind die, die nichts vertragen, die man in Watte packen muss, wo man aufpassen muss, wo man jedes Wort auf die Goldwaage legen muss“, denken viele. Trotzdem: Es gibt genug Beispiele von Hochsensiblen, die von ihrer Veranlagung wissen, die sehr leistungsfähig und besonders wertvoll für einen Betrieb oder die Gesellschaft sind.
Wenn man hochsensibel sein möchte, dann weiß man auch was man ankreuzen soll. Die Fragebögen können eine Annäherung an die Veranlagung darstellen, ersetzen aber nicht das Gespräch mit einer Fachperson.
Sind Hochsensible anfälliger für Stress und psychische Probleme?
Diese Tendenz gibt es tatsächlich. Ich erlebe es ja selbst: An manchen Tagen ist es ein Ringen, da ist man besonders fragil. Da ist es wichtig, das ernst zu nehmen, und sich zu fragen: Wie viele Reize, wie viele Termine gestehe ich mir zu und was ist zu viel? Ein Motto für hochsensible Menschen sollte lauten: Weniger ist mehr.
Wenn Eltern vermuten, dass ihre Kinder hochsensibel sind: Was sollen sie machen?
Das ist ein bisschen tricky. Es gibt Fragebögen, in Büchern oder auch online, die man ausfüllen kann. Diese Fragebögen haben den entscheidenden Nachteil, dass sie einer Selbstdeklaration unterliegen: Wenn man hochsensibel sein möchte, dann weiß man auch was man ankreuzen soll. Die Fragebögen können eine Annäherung an die Veranlagung darstellen, ersetzen aber nicht das Gespräch mit einer Fachperson. Mit diesem Fragebogen kann man gerne zur Fachperson kommen. Ich lasse mir zum Beispiel für jede Frage des Fragebogens eine konkrete Situation erläutern. Ich erkläre dann, warum die geschilderte Situation der Veranlagung geschuldet ist oder den Lebensumständen unterliegt. Das hilft vielen dann sehr, selbst Ordnung in ihrem Leben zu schaffen.
Also sollen sich Eltern nicht auf diese Fragebögen verlassen.
Genau. Sie sollten eine Fachperson aufsuchen, denn nicht alles, was empfindlich ist, ist auch hochsensibel. Ich versuche Eltern von effektiv hochsensiblen Kindern immer etwas Praxisnahes mitzugeben: Also was können sie tun, damit die Kinder ihre Veranlagung als etwas Positives wahrnehmen. Es geht nicht nur darum, ihnen die Reizüberflutungen zu erläutern, denen ihre Kinder ausgesetzt sind, sondern auch darum, dass sie die Veranlagung ihrer Kinder an sich besser verstehen. Das schafft Eltern schon eine große Entlastung.
Sie haben in Tramin mit Südtiroler Lehrerinnen und Lehrern zusammengearbeitet. Was haben Sie den Teilnehmenden mitgegeben?
Ich möchte ein Verständnis und Bewusstsein für das Thema wecken. Ich möchte auch Verständnis für die Eltern wecken, die häufig hilflos sind, weil sie selbst auch nicht wissen, was sie tun sollen, und dann an einer Lehrperson rumrütteln und fordern: „Jetzt tue was dagegen, mach was, damit es meinem Kind gut geht.“ Wenn ich vor Lehrpersonen spreche, dann versuche ich Verständnis für die Eltern zu wecken, und wenn ich vor Eltern spreche, versuche ich Verständnis für die Lehrpersonen zu wecken. Ich möchte Brücken bauen. Ich will nicht vermitteln, dass sie die Schülerinnen und Schüler in Watte packen sollen, sondern aufzeigen: Das, was Hochsensiblen gut tut, tut auch Normalsensiblen gut. Sei es eine reizbefreite Klassenumgebung oder Zentrierungsübungen nach den Pausen. Wenn hochsensible Kinder das Gefühl bekommen, dass sie von der Lehrperson gemocht werden, dann ist sehr viel möglich, also auch leistungsmäßig. Umgekehrt geht sehr wenig. Hochsensible reagieren sehr stark auf die Beziehungsqualität und das ist auch ein Unterschied zu Normalsensiblen.